Thursday, December 28, 2006

Symmetrien



Manchmal sind Bücher wie Spiegelbilder. Und die Worte bilden Ringe im Lauf der Zeit. Bleiben an Bildern, an Orten hängen. Einer der Orte, der solche Ringe zieht, ist Prag. Im Juni war ich dort. Das Ziel ergab sich aus einer Kombination von möglichen Flugterminen und Ticketpreisen. Moskau wäre eine Alternative gewesen, genauso wie Budapest - diese Orte stehen immer noch mit Flugzeiten auf einem Blatt, das vorläufig unter "Reisen" abgelegt ist. Eine andere Folge der Ticketsuche war das Finden der Germanwings Story Award Webseite. "Schicken Sie uns eine Geschichte vom Fliegen", stand auf der Seite. Prag, dachte ich. Kam dann aus Prag mit 89 Bildern zurück. Und ohne Fluggeschichte.

Dafür nahm ich - ohne es zu wissen - eine Geschichte über Prag mit nach Lanzarote. Sie versteckte sich in Harry Mulischs Kurzgeschichtensammlung unter dem Titel "Symmetrie". Begann mit Mathematik. Und stieg dann im 3. Teil in den Flieger, mit Zwischenstopp an der Moldau.

Das vorletzte Mal, dass ich selbst in Prag war, Freitag, den 27. Dezember 1968 (nachdem auch mein Vater inzwischen gestorben war), hatte ich nur ein paar Stunden Zeit. Es war düster und kalt. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind ein Niemandsland, mit dem kein Mensch etwas anzufangen weiß
Zu Hause in Amsterdam hatte ich in den vergangenen Tagen den Flug der Apollo 8 verfolgt, mit der die ersten Menschen die Anziehungskraft der Erde verlassen hatten, um den Mond zu umkreisen. Ich schaute auf meine Uhr. Zu meiner Überraschung sah ich, dass es noch genau drei Minuten dauern würde, bis die Kapsel über dem Stillen Ozen in die Atmosphäre zurückkehren würde. Bei der Figur des heiligen Nepomuk, der an dieser Stelle ins Wasser gestoßen worden war, und nun eine Schneemütze trug, blieb ich stehen und wartete. In der Tiefe wurden die dicken Flocken plötzlich ein Teil der Moldau, so dass es war, als hätte es sie nie gegeben. Als die drei Minuten verstrichen waren, lief ich weiter.

Die Geschichte, gelesen im November am Strand, begleitete mich bis in den Dezember, und gab die Antwort auf die Frage, an welchem Wochentag ich geboren wurde: an einem Dienstag. Drei Tage vor dem Freitag in der Geschichte, vor der Rückkehr der Apollokapsel. Und als ob diese kleinen Wissenssplitter sich gegenseitig anzögen, lief genau am 24. diesen Jahres eine Sendung über jene Apollomission.

Und noch eine andere Verknüpfung gab es dieses Weihnachten: nachdem ich die Reise nach Kafiristhan als Film gesehen hatte, wurde ich neugierig auf mehr. Und fand ein Buch von Annemarie Schwarzenbach, das genau diese Reise nach Afghanistan beschreibt: Alle Wege sind offen. Das Buch, es hat die Form eines Reisetagebuchs, und dreht sich um das Dreigestirn, das Annemarie Schwarzenbachs Leben formte.

Leben und Reisen.
Reisen und Schreiben.
Schreiben und Leben.


Die drei Zeilen, sie blieben vielleicht auch deshalb hängen, weil sie meinem eigenen Weg so nahe kommen. Dachte ich, heute morgen. Und ging zum Briefkasten. Der enthielt eine Buchsendung. Und die enthielt das Taschenbuch vom Germanwings Story Award. Mit 11 Geschichten vom Fliegen. Eine davon ist von mir: Zugvögel. Die Skizze dazu hatte ich schon, bevor ich überhaupt von der Ausschreibung gehört hatte. Geschrieben auf der Reise nach .. Mallorca. Der Blogeintrag dazu heißt Vom Wasser, und dreht sich, wie der Name schon sagt, weniger um Zugvögel, und mehr um das Meer.

Und das Reisebuch?
Gibt es hier: Geschichten vom Fliegen.

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Wednesday, December 20, 2006

Schwimmen im Winter



1939, in dem Jahr, in dem mein Vater geboren wurde, in dem Jahr, in dem Europa auf den zweiten Weltkrieg zusteuert, reisen zwei Frauen mit dem Auto von Genf über den Balkan nach Afghanistan. Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart. Annemarie Schwarzenbach schreibt über die Reise ein Buch: das glückliche Tal.

Es ist die letzte Chance, mich in die Hand zu bekommen, da die europäische Krise Tag für Tag zunimmt. Diese Reise muss uns endgültig dazu verhelfen, vernünftige, verantwortungsbewusste Menschen zu werden.

2001 entsteht in Anlehnung an ihr Buch ein Film: Die Reise nach Kafiristan. Weitere fünf Jahre später findet eine DVD des Films den Weg in den Recorder hier. Und ich? Bin fasziniert von den Bildern, den Worten des Films. Und schlafe dann in der Mitte des Films ein. Auch beim zweiten Versuch. Ich verstehe es nicht. Und erinnere mich dann an die Szene, in der Ella träumt, von der Treppe zu dem Ort in den Bergen. Vielleicht versuchen meine Gedanken ihr dorthin zu folgen, denke ich, aber mein Morgengedächtnis gibt keine Erinnerung preis. Stattdessen bringt es Stücke eines Songs mit. It's just another day for you and me in paradise. Es war mal mein Passwort, fällt mir ein. IJADIP. Getippt jeden morgen in eine Tastatur in einem Büro. Bis ich dann eines Tages wusste, ich muss gehen. Von dort gehen. Auf eine Reise gehen. Alleine.

Um zu überleben, sind die meisten Spezies unseres Planeten gezwungen, sämtliche Erfahrungen, die sie machen, in eine von vier Gruppen einzuordnen. Was immer ihnen begegnen mag, ist entweder eine Nahrungsquelle, eine Bedrohung, ein Mittel zur Fortpflanzung oder bedeutungslos.

Worte von Evelyn Glennie. Aus einem Interview auf Deusche, das im Begleitheft zur DVD Touch the Sound zitiert wird. Vier Gruppen von Erfahrungen zum Überleben, fünf Stufen in Maslows Pyramide der Bedürfnisse, und eine wissenschaftliche Theorie der zehn Dimensionen der Welt. Zehn Dimensionen, und keine Reaktion der dreidimensionalen Welt auf diese Stringtheorie.

Daher dann zwei Tage später eine andere Dimension in der gewohnten Dimension: China in der Stuttgarter Staatsgalerie. 560 Bilder von Menschen in China, aufgenomment von Menschen in China. Die Bilder bilden vier Gruppen, optisch in Quader gefasst (sind diese Worte eigentlich verwandt? Bild und bilden?). Die Themen der Quader, fast eine Spiegelung zu den vier Dimensionen von Erfahrung: Existenz, Beziehung, Begehren und Zeit. Verflochten mit den Bildunterschriften ergeben sich daraus zen-ähnliche Gedanken.

Zeit ist ein ledernes Boot auf dem gelben Fluss.
Begehren ist ein Billiardspiel am Rande eines Feldes.
Existenz ist Schwimmen im Winter.

Daheim blättere ich selbst in der Zeit zurück. Und finde ein zweidrittel Jahr zuvor am gleichen Tag: Korea. In der Ausstellung: "On Difference#2". Von der ich ein Plakat mitgebracht hatte. Und ein Buch, das mit einem weiten Gedanken anfängt: Our life is our message. Ein Satz, der mich an den Anfang dieses Blogs selbst zurückbringt, zum 7. November 2005, zu Sommerstücke im November, die mit der Frage enden, auf die "our life is our message" vielleicht eine Antwort ist, eine Verknüpfung aus den beiden Feldern Existenz und Zeit:

Woher kommt dieses Bedürfnis überhaupt, die Momente zu skizzieren, in Worten, auf Papier, sie zu drehen. Dieses Bedürfnis, geschriebene Worte zu teilen. Und diese Versuche, in Sätzen auf den Grund der Dinge zu tauchen.

Es wird Zeit, schwimmen zu gehen.

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Friday, December 01, 2006

Verknüpfungen



Das Leben ist eine Kette von Ereignissen, deren Muster und Verknüpfungen so komplex sind, dass man sie nicht erkennt, während man in ihnen versponnen ist. Erst mit Abstand werden die Strukturen deutlich. Das ist einer der Gründe, an einen anderen Ort zu gehen, für eine gewisse Zeit. Tapetenwechsel, ist der umgangssprachliche Begriff dafür. Der treffend genau auf diese Strukturen abziehlt, die an anderen Orten andere Farben haben.

Gut ist es auch, das richtige Buch für den anderen Ort mit im Gepäck zu haben. Vorzugsweise läuft es einem von alleine über den Weg, sieht man es in dem Regal der Bücherei, in dem man etwas ganz anderes gesucht hat, bekommt man es geliehen.

So traf ich die Feuerfrau. Sie begleitete mich zu den Vulkanen nach Lanzarote, und sagte mir dort genau das, in anderen Worten.

Wer frühere Ereignisse zusammenbringt, lernt sich selber kennen. Aber viele Menschen bewahren die Erinnerungen nicht im Gedächtnis bis sie einen Sinn ergeben. Sie wissen nicht einmal, dass sie es können. Dass auch das Licht mancher Sterne uns erst dann erreicht, wenn sie längst erloschen sind.

Die Konsequenz daraus hatte sie mir davor schon erläutert.

Man kann die Welt nicht sehen, ohne sich selbst zu sehen.

Es war dieser Satz, der hängen blieb, der eine Schlaufe bildete, durch den sich dann einen Tag später der nächste Gedanke zog. Dieser hatte eine Jahr daheim darauf gewartet, gelesen und gedacht zu werden. Doch es brauchte offensichtlich diese Reise, um ihm den richtigen Raum zu geben, und welcher Ort könnte passender für Zeit- und Gedankreisen sein als eine Insel.

"Bildung – Alles was man wissen muß", heißt das Buch, das von Griechenland über Rom durch das Mittelalter in die Neuzeit, und von Dante über Goethe und Shakespeare bis zu James Joyce führt, das mich erst in die griechische Götterwelt beförderte, und von dort direkt in die Arme von Sokrates, Platon und Aristoteles. Und zu dem philosophischen Gleichnis, das wie ein Gegenstück zu der Zeile oben scheint, und genauso wie die Feuerfrau mit einer Flamme verbunden ist – das Höhlengleichnis Platons:

Das Reich der Erscheinungen ist eine Höhle, in der wir mit dem Rücken zu einem flackernden Feuer sitzen, während zwischen uns und dem Feuer wirkliche Gestalten vorbeiziehen. Wir aber sehen nur ihre schwankenden Schatten auf der Wand. Sie sind unsere Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit. Dort auf der Insel schien sie vor allem dann real, wenn man mit dem Raum alleine war. Am Ende des Strandes, bei den Wellen, oder in den langgezogenen Kurven der Straßen, wenn man nur das schwarz des Vulkangesteins und das blau des Himmels und des Meeres sieht.

Dort, am Ende des Strandes, bahnte sich dann schon die nächste Verknüpfung an, ohne dass ich diese als solche hätte erkennen können. Eine Frau ging vorbei, in Jeans und Shirt. Das Shirt stammte von einem anderen Ort, es trug den Namen: Jordan. Petra. Ein Ort, an dem ich noch nie war, den ich aber durch I. kenne. Von ihr erhielt ich dann 3 Tage nach dem Ende der Inselzeit eine Seite aus der Zeit. Mit einem Bild von Petra. Aufgenommen 1994 von Annie Leibovitz. Auf dem Bild ist auch eine kleine Figur zu sehen, die dort zwischen den Steinmauern steht. Susan Sontag. Oder: das Bild eines Menschen, stehend zwischen dem Dunkel und dem Licht. Das Bild eines Menschen, der zu dem Zeitpunkt noch 10 Jahre zu leben hatte.

Der Tod ist wie ein Riss im Gewebe der Tage. Durch den Riss verschwindet jemand, durch ihn können die Lebenden etwas erkennen. Was? Vielleicht sich selber. Wer ist man, angesichts dieses Risses? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Oder keine.

Dem Riss. Man ist ihm auch näher in der Ferne. Genauso wie den Antworten. Vielleicht ist das der Grund, dass so viele Geschichten und Bilder auf Reisen entstehen, an den Orten jenseits unseres gewohnten Seins.

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Friday, November 24, 2006

Wie eine Insel



Es ist Mittwoch. Diese alltägliche Feststellung benötigt hier, auf der Insel, einen Moment der Konzentration. Wie schnell sich die Wochentage auf einer Insel auflösen. Keine 24 Stunden hat es dafür gebraucht. Jetzt, in der zweiten Woche, kehren sie langsam zurück: Mittwoch ist der Tag, an dem die TUI-Frau laut Welcome-Heftchen hier bei den Bungalows vorbeikommt. Und da TUI-Busse keine Fahrräder mitnehmen, wir aber mit Fahrrad da sind, fahren wir am Sonntag mit Taxi zum Flughafen. Das ist zwar noch einige Tage hin, aber daran will heute schon gedacht sein, sonst wartet der Bus auf uns, während wir schon nicht mehr da sind.

Mit dem gesuchten Welcome-Heftchen taucht auch eine ebenso passende, wenn auch unerwartete Notiz auf: eine Seite aus "Muscheln in meiner Hand", dem Inseltagebuch von Anne Morrow Lindbergh, die ich für eine Freundin kopiert hatte. Die erste Kopie war jedoch angeschnitten, und wanderte daher in den Papierkorb. Von wo ich sie dann einen Gedanken später wieder herausfischte, um sie auch selbst mitzunehmen. Auch so eine alltägliche Sache: das es manchmal einfacher ist, für andere mitzudenken als für sich selbst. Was vielleicht einer der Gründe ist, manchmal für eine gewisse Zeit auf eine Insel zu gehen.

Heute ist mein letzter Inseltag. Was habe ich bei meinen Bemühungen, meinem Suchen am Strand gewonnen? Welche Antworten und Lösungen habe ich gefunden? In meiner Tasche habe ich ein paar Muscheln, ein paar Hinweise. Nur ein paar.
Man kann nicht alle schönen Muscheln am Strand sammeln. Man kann nur einige sammeln, und die sind umso schöner, je weniger es sind. Die stellt man gesondert auf, inmitten eines freien Raums – wie eine Insel. Denn Schönheit entfaltet sich nur im freien Raum. Selbst geringe und alltägliche Dinge gewinnen, wenn der Raum sie umspült, eine Bedeutung, wie ein paar hingehauchte Herbstgräser, die auf einer asiatischen Malerei in der Ecke eines leeren Blattes stehen.


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Freitag, 24. November

Herbstgräser, die in der Ecke eines leeren Blattes stehen. So ist auch Lanzarote. Eine Insel mit viel freiem, leeren Raum. Mit Feldern aus Vulkangestein, in deren Ecken einzelne grüne Kakteen stehen. Malerisch auf eine existenzielle, eine elementare Weise. Dazu das Meer. Und der Wind. Während ich hier sitze, auf der Terrasse des Bungalows, kann ich beide hören. Das Pulsieren der Wellen ist immer da. Vielleicht schlafe ich daher tiefer und länger, kann mich jeden morgen an einen Traum erinnern, manchmal sogar an zwei.

Es ist eine Zeit des Ausruhens, des Zuhörens, und Lesens. Die Bücher, die ich dabei habe, mehr zufällig als geplant ausgewählt, alle aus dem Bücherei-Regal, dass von L nach M führt: Lopez, Mulisch, Muschg. Keine Romane, sondern Sammlungen von Kurzgeschichten, alle von ihnen. Und in allen von ihnen, eine Geschichte, in der Steine eine Rolle spielen. Was exakt zu der Insel hier mit all den Steinen hier passt, fast besser noch als Muschelgedanken. Hier das Mosaik daraus, in der Reihenfolge, in der ich die Passagen gelesen habe:

Dienstag, 21. November
Es ist lange her, dass ich zum letzten Mal in einem japanischen Garten gesessen bin; dabei konnte es vorkommen, dass ein Leben, in dem ich nicht mein eigenes erkannte, mich beim Blick auf einen verwitterten Stein durchfuhr, Gott weiß, wie weit her, und wo hinaus. Ich muß es nicht wissen; es ist genug, daß ich den Stein sehe. Wenn ich vorbei bin, ist er immer noch da.
Die Steine bleiben, denn sie wissen vom Bleibenden nichts. Aber ich habe das Glück, diese Steine zu sehen, und sie haben die stumme Gnade, sich von mir anschauen zu lassen.
- Adolf Muschg; „Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat“


Mittwoch, 22. November
Wenn die langen Briefe
geschrieben und gelesen sind,

wenn Entfernungen absolut werden
und auch das Reden
Entfernung ist, bleibt
nur das Hören

Ich habe die dunklen Herzen
der Steine gehört
die einmal im Leben schlagen
- William Pitt Root, erste Seite in Barry Lopez „Winterchronik“


Freitag, 24 November
Vergeßlichkeit ist natürlich die Bedingung der Welt. Steine haben nie etwas gewußt, sie sind deshalb ewig; für Pflanzen gilt das schon weniger. Bei Tieren schlägt die Zeit heftiger zu, aber noch nicht essentiell. Bei den Menschen hingegen muß jede Generation aus Selbsterhaltungstrieb fast alles vergessen, was der vorherigen geschehen ist und was sie daraus gelernt hat. Wenn jemand alles wüßte, was je geschehen ist, oder auch nur, was in diesem Augenblick in der Welt passiert, bliebe sein Herz im selben Augenblick stehen. Er würde sich schlagartig in unbeseelte Materie verwandeln, denn mit diesem Wissen ist Leben nicht mehr möglich. Die Menschen können leben dank dessen, was sie von den Steinen geerbt haben: das schlechte Gedächtnis.
- Harry Mulisch, „Vorfall“


So betrachtet, macht es doppelt Sinn, dass es keine Muschel war, die ich bei meinem ersten Ausflug zur Lavaküste am Strand mitgenommen habe, sondern ein Stein. Ein kleiner, runder, schwarzer Stein, der sich in der Hand gleichzeitig leichtmütig und schwermütig anfühlt.

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Tuesday, November 07, 2006

Kleine, gemeine Geschichten



Wenn die Frankfurter Buchmesse am Dienstag, 17. Oktober eröffnet wird, wann gibt es dann die ZeitLiteratur? Am darauf folgenden Donnerstag, dachte ich. Und lag damit exakt 7 Tage daneben. So erhielt ich statt gebündelter Buchbesprechungen eine Beilage namens InDesign. Oder InStyle. Und nun? Nun Geduld, stellte I. lächelnd fest. Zehn Tage später überreichte sie mir eine fröhlich bunte Tasche, in der sich die gesuchten Seiten befanden.

Wunderbar, dachte ich. Um dann auf Seite 3 gleich vor der nächsten Frage zu stehen. Die sich auf dem Mount Abu dem Schriftsteller Martin Mosebach stellte, der momentan in Asien weilt, und von dort den Eröffnungsbeitrag zur der Ausgabe beisteuerte. Entsprechend dem Schwerpunktthema der Buchmesse: eine Reisegeschichte aus Indien bei der es um eine Begegnung mit einem weisen Mann geht. Das Ganze gespickt mit den kleinen, großen Fragen des Lebens.

Auf dem Weg beschäftigen uns die Gedanken, wie wir der Begegnung mit dem Heiligen gerecht werden könnten. Wäre es passend, ihn etwas zu fragen? Und wie müsste eine Frage passenderweise beschaffen sein? Müssten nicht ganz grundsätzliche Dinge besprochen werden in der Höhle? Aber würde ein solcher Weiser uns nicht sofort durchschauen, wenn wir da mit einer wichtigtuerischen Frage aufträten, die wir uns für den Anlass zurechtgelegt hätten? Wäre es nicht richtiger zu schweigen? Vielleicht würde der Heilige uns eine Lehre, vielleicht auch nur einen einzigen Satz mitgeben, der uns lange im Gedächtnis bliebe?

Statt zu fragen, setzen sich die Besucher der Höhle. Und hören dem Schweigen des Yogi zu. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Es folgt noch eine Pointe, in der das Schweigen gebrochen wird, und Besucher, Yogi und Leser zusammen wieder in die Leichtigkeit und Oberflächlichkeit des Jetzt gebracht werden. Schließlich folgen der Geschichte ansehnliche 100 Seiten Text, die alle darauf warten, gelesen zu werden.

Ich blättere brav weiter, bleibe jedoch vorerst nur an den Fotos hängen - diesen faszinierend farbigen Momente aus Chennai, aus Jaisalmer, aus Srinagar.

Dann stoße ich auf Haruki Murakami. Besprochen von Helge Timmerberg. Gott ist ein Herr aus Tokyo, steht auf der Seite. Und einige Zeilen später bin ich wieder dort, in dieser merkwürdigen Geschichte, die ich selbst vor ein paar Monaten gelesen habe, dieser Geschichte über die Kellnerin, die einem Hotelgast das Essen aufs Zimmer bringt. Der Hotelgast entpuppt sich als freundlicher alter Herr, der sie nach ihrem Wunsch für das Leben fragt, als er erfährt, dass sie Geburtstag hat.

Aber der Kellnerin fällt nichts ein. "Sie wollen nicht reich und berühmt werden?" fragt er sie. Die Kellnerin denkt noch einmal nach. Doch, da gibt es etwas, ja, sie hat einen Wunsch. Dann geht sie wieder runter, und die Geschichte geht weiter und weiter und arbeitet offensichtlich mit allem weiteren auf die Klärung von zwei Fragen hin. Was hat sie sich gewünscht? Und: Ist der Wunsch in Erfüllung gegangen? Aber Murakami denkt nicht daran, diese Fragen zu beantworten.

Und wirft genau dadurch noch eine ganze Reihe anderer Fragen auf, die einem auch dann noch nachfolgen, wenn man die Geschichte längst gelesen und zur Seite gelegt hat.

Warum lese ich trotzdem weiter? Warum lasse ich mir das gefallen, diese Geschichten, die wie kleine spitze Schuhe sind, die gegen mein Schienbein treten, um daran zu erinnern, dass es noch Fragen zu klären gibt? Wie man so etwas nennt? Zen-Buddhismus vielleicht. Die haben auch so kleine, gemeine Geschichten, die keinen Sinn ergeben und einen beschäftigen, bis man sie geknackt hat.

Jetzt Murakami, denke ich. Doch das Buch war nicht meines, erinnere ich mich, nachdem ich meine Buchregale besichtigt habe. Dafür findet sich das kunstvoll gestaltet Buch von Kenzaburo Oe, dass ich in Prag in dem Second-Hand-Shop namens Anagram gefunden habe. A quiet life. Und es enthält ebenso, wen würde das überraschen, mehr Fragen als Antworten. Eine besonders bemerkenswerte davon findet sich im 3. Kapitel, in dem es über die möglichen Aussagen eines Films im speziellen und von Künstlern im allgemeinen geht.

"I can't comment on the movie with the kind of formula where one says, 'On the whole, isn't it trying to say something like this?' This, however, it sort of what I thought. The 'end of the world' will come. It won't come today or tomorrow. Most likely, it won't come in our time. But it will come creeping along, slowly, as if it didn't want to. And we'll go on living, as if we didn't want to, because all we can do is wait in fearful uncertainty. Now if things were really like this, wouldn't it be natural for us to want to snatch a preview of this 'end of the world' that's so slow in coming? This, after all, is sort of what I think the job of an artist is."

Das Ende der Welt. Wo hatte ich das gerade? Richtig. In der Themenstellung des Irseer Pegasus. "...als ob morgen die Welt unterginge..." stand dort, über den kleingedruckten Details, die lediglich einen Anhaltspunkt der zur Verfügung stehenden Lesezeit gaben, und hervorhoben, dass man sich durch diese Aufgabenstellung nicht eingegrenzt fühlen solle. Bleiben zwei Fragen. Besteht zwischen der Textstelle bei Oe und der Aufgabenstellung in Irsee ein Zusammenhang? Und: Sind sich Fragezeichen insgesamt ihrer Wirkung bewusst?

Bis morgen, dann.

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Monday, October 30, 2006

Aufbruch in die Seiten-Serengeti



Ende Oktober. Die Bäume, noch grün. Die 5 Literatur-Wettbewerb-Deadlines, die sich aus unerfindlichen Gründen alle auf den 31.10. konzentriert haben, hinter mir. Vier davon erwiesen sich als besonders kniffelige Steine auf dem Weg durch den Kalender: die Kurzgeschichte zum Thema "Utopia - Die Gesellschaft von Morgen", 10 Seiten. Die Reisegeschichte "So fern, so nah,", bei der den drei Gewinnern eine Reise nach Afrika winkt, inklusive Literaturworkshop, 4 Seiten. Die Inselschreiber-Ausschreibung mit dem verdächtig leicht dahingehauchten Thema "Sommerfrische", ebenfalls 4 Seiten. Und schließlich Irsee. Das thematische Gegenstück zu Utopia: "als ob Morgen die Welt unterginge", in 15 Minuten Lesezeit.

All diese Texte, geschrieben und eingesandt, nun Teil von Textstapeln, auf Entscheidung wartend. "Und jetzt?" fragte der Timer in meinem Gehirn, der die letzten 4 Wochen mit dem Jonglieren von Sätzen und Terminen beschäftigt war. "Und jetzt, das Jetzt", antwortete ich. Und ging zu Stegmaier, die neue Zeit kaufen. Dort, als Leitartikel des Reiseteils: Afrika. Und die Geschichte einer Safari, die vom Ablauf parallel zu dieser Reise durch das Land der Worte verlief:

Aufbruch in die Serengeti. Der Weg führt zunächst durch grünes Samhügelland, die feuchten Täler sind jetzt, in der großen Regenzeit, durchwirkt vom Teppich gelber Lantana-Blüten. Nach zwanzig Kilometern wird das Land staubstrocken und dürr, durch einen schütteren Wald von Schirmakazien, in dem Giraffen herumstolzieren, geht es hinunter in die Malanja-Senke. Kurze Rast in Oduvai, einem Wallfahrtsort für Paläanthopologen. In einem kleinen Museum ist eine Nachbildung des Schädels von Australopithecus boisei zu bewundern, dem Nussknackermenschen, der in der darunterliegenden Schlucht ausgegraben wurde.
- Bartholomäus Grill

Der Nussknackermensch. Das bin ich, in diesem Monat der Worte, der zu knackenden Textnüsse. Doch es gibt nicht nur Nüsse, sondern auch kreiselnde Blätter: nach dem abschließenden Punkt unter dem Inseltext mache ich einen Ausflug in die Bücherei, und sammle dort eine Auswahl Bücher aus den Regalen. Katharina Hackers Habenichtse. John Updikes Landleben. Und J.M. Coetzees Youth. Das auf Seite 3 das Inselthema widerspiegelt. Und dann auf der drittletzten Seite ausführlich in den Dschungel der Wörter taucht, ohne Lantana-Blüten.

He is proving something: that each man is an island.
..
He is afraid: afraid of writing, afraid of women. He may pull faces at the poems he reads in Ambit and Agenda, but at least they are there, in print, in the world. How is he to know that the men who wrote them did not spend years squirming as fastidiously as he in front of the blank page? They squirmed, but then finally they pulled themselves together and wrote as best they could what had to be written, and mailed it out, and suffered the humiliation of rejection or the equal humiliation of seeing their effusions in cold print, in all their poverty.

Die Sehnsucht nach dem Text, der allen Blicken standhält. Vor allem dem eigenen. Er taucht auch in der Zeit auf, auf einer meiner Lieblingsseiten, auf der letzten Seite des Lebens (was für eine krude Symbolik zu diesem Thema), in "Ich habe einen Traum". Diesmal ist es der Traum von Georg Kreisler, der 1938 geboren ist. In Wien. Von dort nach New York ging, und 1955 nach Wien zurückkam. Der mit 88 immer noch an neuen Projekten arbeitet. Und der immer noch träumt.

Ich träume davon, perfekt zu sein, wenn ich schreibe, komponiere, inszeniere. Ich bin nie zufrieden mit mir, weil ich einerseits weiß, wie diese Perfektion aussehen würde, und andererseits, dass sich dieser Traum von Perfektion nie erfüllen wird. Aber ich glaube, das geht jedem Künstler so, jedem wirklichen Künstler.

Eine ganz andere Art von Utopia, etwas später: ein X-Men-Sonderband. In dem, wie so oft, das Gute gegen das Böse kämpft, wobei das Böse sich in diesem Fall in den Reihen des Guten versteckt hat, unter einer Maske. Als die Maske fällt, beginnt der Kampf, in dem es um nichts weniger als das Überleben der X-Men und der menschlichen Rasse geht. Auf einer der skurrilsten Seiten finden sich die Telephatin Emma Frost und der Mensch mit Löwengesicht und blauer Haut- und Haarfarbe, Beast, auf einem treibenden Raumschiff mitten im pazifischen Ozean wieder.

"Irgend etwas Schlimmes ist in Gange," mutmaßt Beast dort, während er versucht, die Ereignisse zu einer Skizze verbindet, die er in Ermangelung von Papier und Stift mit seinen Krallen auf die Aussenhülle des Raumschiffs ritzt. "Plötzlich ergibt alles einen Sinn," stellt er fest, "Sublime und seine U-Men, Feng Tu, die Droge Kick, der Aufstand an der Schule und.." Dann stöhnt er auf, und hebt seine Hände, und sagt den wunderbaren Satz: "So ruiniere ich mir meine Krallen! All meine Ideen - ich brauche dringend.. einen Stift."

Zusammen ergeben sie eine Art Gleichnis, denke ich. Der junge Mann in Coetzee's Roman, der verzweifelt vor dem weißen Blatt sitzt, dem alle Tinte der Welt nicht aus der Situation helfen können. Der Gepard aus Südafrika, der dasitzt und schaut. Und der blaue Löwe, voller Ideen, aber ohne Stift.

Die nächste Nuss? Sie wartet schon, ein gutes Stück Zeit entfernt: die Junge Akademie fragt "Wer hat die Wahl?", und erwartet die Antwort in maximal 30.000 Zeichen bis zum 31. Dezember.

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Monday, October 16, 2006

Rhapsody in Rom



Manche Orte sucht man sich aus. Träumt von ihnen. Kauft Bücher darüber, lange bevor man sicher weiß, wann man gehen wird. Und ob überhaupt.

Andere Orte tauchen durch unkonventionelle Verkettungen von Ursachen und Gegebenheiten an unerwarteten Terminen im Kalender auf. Zum Beispiel so: weil im Juli 2006 die Fussball WM war, und Ronnie in der Firma arbeitet, welche die Fussball-Sticker samt Alben im Programm hat, und weil diese Firma ihren Hauptsitz in Italien hat, und im Jahr 1961 gegründet wurde, also demnach dieses Jahr fünfundvierzigstes Firmenjubiläum feiert, und vielleicht auch weil die Italiener die Franzosen im Finale besiegt haben, kam Mitte September der Plan auf, das alles mit einem kleinen Firmen-Get-Together zu feiern. Auf einem Schiff. In Italien. Mit Besichtigung von Rom. Alle weiteren Reisedetails ungewiss, aber Partner mit eingeladen. Wer ohne Partner kommt, wird im Zweifelsfall per Zufallsprinzip in Kabinen verpaart. "Kommst du dann mit," fragt Ronnie. Wenn das nicht der romantischste aller Gründe ist, um auf Reisen zu gehen, denke ich, als ich meine Koffer packe. Dabei fällt mir ein, dass ich noch einen Romführer kaufen könnte. Der liegt dann erst einmal im Koffer, während ich in Alain de Bottons Buch "Vom Reisen" lese.

Wenn das Streben nach Glück unser Leben beherrscht, erschließen uns vielleicht nur wenige unserer Handlungen soviel über die Dynamik dieser Suche - mit all ihrer Innbrunst und ihren Paradoxien - wie die Reisen, die wir unternehmen. Im Gegensatz zu der ungetrübten, dauerhaften Zufriedenheit, die wir erwarten, erweist das Glück mit und an einem anderen Ort sich für einen wachen Geist offenbar zwangsläufig als nur kurze und flüchtige Erscheinung: als Episode, in der wir empfänglich sind für die uns umgebende Welt. Dieser Zustand hält aber selten länger als zehn Minuten an.

Einen Tag später, im Hafen von Genua, fühle ich genau diese Flüchtigkeit, während ich dastehe, auf dem Deck 5 der Rhapsody, auf der Terrasse des Outrigger Cafés. Der Boden bebt, der Schlot raucht, das Schiffshorn tönt, die Welt vor, über und unter uns bewegt sich. Es ist das erste Mal, das ich das Auslaufen eines Kreuzfahrtschiffs von dessen Bord aus erlebe. Ich mache ein Foto von dem Moment, der so real ist, dass er wie ein Film wirkt. Ein paar Minuten später ertönt ein Gong. Essenszeit. Wo ist nun noch einmal das Restaurant? Jemand rempelt mich an. Ein Handy klingelt. Das Menü hat 5 Gänge, bei begrenzter Zeit, da in 2 Sittings dinniert wird. Nach dem Essen erklärt uns der Kellner, dass es sich empfielt, zwischen dem 2. und 3. Gang zu wählen. "I didn't want to tell you right away," sagt er entschuldigend. Ich sehne mich an einen Ort ohne tickende Uhr. Gehe für eine Viertelstunde auf Deck 4, in unsere Kabine. Setze mich auf das grün-blaue Bett und schaue aus dem Fenster, sehe nur mich, mache das Licht aus, sehe das Meer. Mache das Licht nach einer Weile wieder an und blättere in Alain de Bottons Gedanken.

Wenn wir an der Tankstelle und im Motel Poesie finden, wenn Flughäfen und Eisenbahnwaggons uns anziehen, dann vielleicht deshalb, weil wir trotz ihrer architektonischen Dürftigkeit und ihrer Unbequemlichkeit, trotz ihrer schreienden Farben und ihrer grellen Beleuchtung instinktiv wahrnehmen, dass diese isolierten Orte uns den materiellen Rahmen für eine Alternative zur egoistischen Lässigkeit, zu den Gewohnheiten und Beschränkungen der gewöhnlichen Welt bieten, in die wir eingebunden sind.

Jemand anders hier an Bord hat wohl einen ähnlichen Gedanken gehabt. Auf dem Weg zurück zu den anderen ins Outrigger bleibt mein Blick an einem Bild im Treppenhaus hängen. Es zeigt New York, den Broadway, und ein Theater. Das Stück, das dort gespielt wird: "Endstation Sehnsucht." Darauf trinke ich einen Espresso. Und sehe vom Bug aus den Wellen zu. 18 Knoten macht das Schiff, wenn es auf vollen Touren läuft, lerne ich. Also 33 Stundenkilometer. Und: die Welle, die das Schiff antreibt, wird aus einem Stück geschmiedet. Ich würde gern den Maschinenraum anschauen. Einen Blick hinter die Kulissen werfen. Doch das ist aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Dafür gibt es um 24.00 Uhr Pizza und Focaccia in den Salons, für alle, die eventuell doch noch etwas Hunger haben. Statt mit Focaccia wird der Tag für mich mit Worten enden, beschließe ich. Mit einem Mail nach Hause.

Heute morgen waren wir noch in Modena, in einem Hotel mit Rosentapeten und Ölbildern, die mit gehäkelten Haken aufgehängt waren. Heute mittag sind wir dann per Bus in Genua angekommen, wo ein Schiff auf uns gewartet hat: die MSC Rhapsody. Die hat um 19.00 Uhr ihre Leinen gelöst, und ist nun auf dem Weg nach Rom. Oder bessergesagt: auf dem Weg nach Civitaveccia, von wo aus es dann mit Bussen nach Rom geht. Und ja, es ist alles ungefähr so surreal wie der Name des Schiffs, der genau zu dem Bild hier in unserer Kabine passt, und eine Szene aus den „West Indies“ zeigt.

Das Foto des Tages: der Blick nach Genua beim Auslaufen aus dem Hafen. Die dunkle Wolke rechts oben ist vom Schiffskamin. Der Frachter links ist aus China. Zum Glück haben wir eine Kabine mit Fenster. Dann kann ich morgen rausschauen wenn ich aufwache, und mich frage wo ich bin.

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Der nächste Tag beginnt mit einem Sonnenaufgang. Und einer Busfahrt. Ich denke daran, den Romführer einzupacken. Und so lese ich, während der Bus die Autostrada mit Blick auf Felder und Schafe entlangrollt, Informationsschnipsel und Miniratschläge über die Stadt, die am Ende der Autobahn wartet.

Die Metropole am Tiber hat ihren Besuchern viel zu bieten. Versuchen sie nicht, alles auf einmal zu sehen. Weniger ist oftmals mehr.

"Sono pazzi questi romani" (Die spinnen, die Römer) - schon lange vor Asterix interpretierte der Volksmund so die berühmte Abkürzung S.P.Q.R., mit der im antiken Rom der Senat seine Beschlüsse unterzeichnete: Senatus Popolusque Romanus (im Namen des Senats und des römischen Volkes).


Dann: Rom. In echt. Vom Bus aus gesehen. Mit Blickrichtungs-Ansagen per Mikro. Jetzt links. Jetzt rechts. Jetzt nach vorne. Jetzt wieder links. Dann alle aussteigen. Avanti, avanti. Kolosseum, Forum Romanum, Titusbogen, Saturntempelsäulen, Via Sacra.

Zum Abschluss umkreisen wir das Kolosseum noch einmal per Bus. Einen Tag später, auf dem Schiff, taucht es in dem Roman auf, dass mir eine Freundin in weiser Voraussicht mitgegeben hat: Jan Weiler. Maria, ihm schmeckt's nicht! Geschichten von meiner italienischen Sippe. Geschichten aus dem Italien jenseits der Reiseführer.

Mein Schwiegervater hat eine typische Eigenschaft der Entwurzelten, also derer, die nicht wirklich dort zu Hause sind, wo sie wohnen, und auch nicht richtig dort hingehören, wo sie herkommen. Wenn er in Deutschland ist, gibt es für ihn nichts Schöneres als Italien, das Land seiner Vorfahren und des Weins und so weiter. Alles ist in Italien besser. Dieses Bild wendet sich jedoch just in der Sekunde, in der er italienischen Boden betritt. Die Deutschen seien große Erfinder, vor allem die Disziplin der Deutschen sei bewundernswert, erklärt er dann. Wenn das Kolosseum nicht in Rom stünde, sondern beispielsweise in München, so würde dort heute noch der FC Bayern spielen, weil es dann nämlich immer noch tadellos in Schuss wäre.

Das Kolosseum, und ganz Rom, so wie es früher aussah. Ich versuche den Zeitsprung im Geist. Er gelingt nicht wirklich. Vielleicht schaue ich in der Bücherei daheim nach einem Michelangelo-Buch, überlege ich. Oder nach einem anderen Buch, das von der Zeit damals erzählt. Bücher. Eine Zeile aus einem Büchereibuch, das daheim blieb, weil es in Frankreich spielt, fällt mir ein, aus Amélie Nothombs Buch "Der Professor":

Aber auch die Bücher sind Nachbarn - Traumnachbarn, die einen nur besuchen, wenn man sie herbeiwünscht, und wieder gehen, wenn man genug von ihnen hat.

Genau wie bei Reiseberichten. Oder Romanen. Man kann sie, im Gegensatz zu der realen Reise, genau passend zur Stimmung und zum Wetter lesen. Genau, sagt der Tropfen, der auf meinen Arm fällt. Genau, genau, sagt der Himmel. Ich flüchte mich ins Trockene, unter ein Sonnendach, dass so zum Regendach wird. Blättere noch einmal in Jan Weilers Buch. Stolpere über einen Satz, der auch im Romführer stehen könnte.

Italiener wissen eben, was wahrer Luxus ist, nämlich die Möglichkeiten, die sich einem bieten, nicht zu nutzen.

Das machen wir dann auch am nächsten Tag: wir nehmen den Bus nicht. Bleiben an Bord. Lesen. Träumen. Schauen dem Sonnenuntergang von Anfang bis Ende zu. Gehen dann Essen. Wie voll ein Tag freier Zeit sein kann.

Nachts wecken mich Wellen. Im Dunkeln schaue ich vom Kabinenfenster dem aufgewirbelten Wasser zu, das am Schiffsrumpf in hypnotischen weißen Kreiseln vorbeizieht. Plötzlich tauchen links Lichter auf, was keinen Sinn macht, weil die Küste eigentlich rechterhand liegt, wenn man von Civitaveccia nach Genua schippert. Träume ich? Irgendwo in der Tasche muss doch noch eine Karte sein, fällt mir ein. Sie findet sich zwischen einer Seite aus 43Things und dem Deckplan, und löst das Rätsel: es ist die Insel Elba, die dort in der Nacht leuchtet.

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Monday, September 25, 2006

Einige Dinge bleiben



Paul Auster. Leviathan. Ich hatte das Buch schon einmal in der Hand. Hatte es aufgeschlagen, und wieder weggestellt. Ab und an wieder hervorgeholt. Doch nie den richtigen Einstieg gefunden.

Jetzt steht es wieder vor mir. In einer anderen Sprache, an einem anderen Ort. In einem Regal der Bücherei. Steht da, und wartet darauf, zum ersten Mal gelesen zu werden. Ich zögere. Stelle es in die Lücke zurück. Fahre mit dem Finger über die Titel, die daneben stehen. Komme dann wieder zu Leviathan zurück. Lege es auf den Stapel.

Am nächsten Tag schlage ich es auf. Lese die ersten sechsunddreißig Seiten in einem Zug. Bleibe dann an einem Absatz hängen.

Niemand kann sagen, wo ein Buch herkommt; am wenigsten derjenige, der es geschrieben hat. Bücher werden aus Unwissenheit geboren, und wenn sie nach ihrer Niederschrift weiterleben, dann nur durch das, was unverständlich an ihnen ist.

Ich lese die Zeile noch einmal. Greife nach einem Stift. Erinnere mich daran, das es nicht das Meine ist. Und gehe auf die Suche. Das erste Buch findet sich überraschend schnell, es steht in zweiter Reihe hinter den Suhrkamp Taschenbüchern. Ich lege die beiden Titel nebeneinander. Das eine wurde in 1994 gedruckt, in Reinbek bei Hamburg. Das andere 2005, in Chatham, Kent.

Bis auf die Buchstaben könnten die Titel unterschiedlicher nicht sein. Und der Inhalt? Seitenwechselweise vergleiche ich Passagen aus der deutschen und der englischen Version. Gehe zurück zu Satz Eins. Lese das gleiche in anderen Worten.

Six days ago, a man blew himself up by the side of a road in northern Wisconsin.
Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rand der Straße in die Luft gesprengt.

Ich frage mich, wie viel von Auster in einer Übersetzung verloren geht. Und lese dann testweise auf deutsch weiter. Auch, um der Suche nach den Sätzen, die ich behalten will, zu entgehen. Sätze wie diesem.

Jeder von uns hatte einen Abdruck in den Seelenschichten des anderen hinterlassen.

Abdrücke in den Seelenschichten des anderen. Das Bild taucht später wieder auf, in der Zeit der letzten Woche, in einem Artikel über Joan Didion und ihren Mann. Beide Autoren. Bis er plötzlich während eines gemeinsamen Abendessens stirbt. Und sie sich betäubt in einer Welt des Schmerzes, des Wahnsinns wiederfindet. Ein Jahr später beginnt sie wieder zu schreiben. Ein Buch über die Zeit danach.

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich wahnsinnig war. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich wieder stabilisierte. Als es am schlimmsten war, hatte ich keinerlei Empfinden dafür.
Ich war vollkommen darauf fokussiert, Szenen des Sterbens durchzuspielen. Ich war darauf konzentriert, wie man diese Szenen mit anderem Ausgang spielen könnte. Es geisterte als Endlosband in meinem Kopf herum. Erst auf der Seite konnte ich es anhalten.


Erst später wird mir die Paralle zwischen Auster und Didion bewusst, die Art, wie ihre reale Geschichte und sein Roman sich ineinanderfügen wie gegenteilig geformte Puzzlestücke. Leviathan ist die Geschichte des Schriftstellers Sachs, der sich selbst verliert, einen letzten Anlauf nimmt, wieder zu schreiben, und dann untertaucht, der verschollen bleibt, bis er sich drei Jahre später selbst in die Luft sprengt.

Bei beiden Geschichten steht am Ende ein Buch - der Roman ist die fiktive Erzählung der Lebensgeschichte von Sachs, betitelt nach dessen unvollendeten Manuskript: Leviathan. Das biblische Fabelwesen. Und Didion fügt ihre Erinnerungen zu einem Buch zusammen: Das Jahr magischen Denkens.

Einige Dinge bleiben.

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Sunday, September 10, 2006

unterwegs



Drei Tage Tirol. Alles fertig gepackt, von T-Shirt bis Wollmütze. Nun noch das passende Buch. Eigentlich wäre die Kafka Biografie dran, aber die ist nicht wirklich für unterwegs. Kerouac wäre besser. Nur, dass dessen Traumbuch bereits wieder in der Bücherei weilt. Dann fällt mir der logische Schritt ein, als Quergedanke zu den Kas von der Reise nach Prag, und dem Hotel namens "Trinidad": Timbuktu. Das Paul Auster Buch, das aus der Perspektive eines Hundes geschrieben ist, und das schon länger quer im Regal steht. Ich schlage es probeweise auf. Und die Reise fängt an.

Die Reise war eigentlich gar nicht so schlecht verlaufen. Sie waren hergekommen, um nach der einen Sache zu suchen, und hatten eine andere gefunden, und am Ende zog Mr. Bones das, was sie gefunden hatten, dem, was sie gesucht hatten, vor.
In der Ferne sah er einen Mann und ein kleines Mädchen laufen, aber er verschwendete keinen Gedanken an sie. Sie kamen oder gingen, und es spielte überhaupt keine Rolle, wer sie waren. Der Regen war stärker geworden, und der Wind fegte die Schokoriegelverpackungen und Papiertüten über die Straße. Mr. Bones schnüffelte ein-, zweimal und gähnte dann grundlos. Nach einer Wolle rollte er sich auf dem Boden zusammen, seufzte tief und wartete darauf, was geschehen würde.

Das ist es, denke ich. Das Buch für unterwegs. Auf dem Weg nach unten fällt mein Blick dann von Rothko in abgetönten Farben an der Wand auf Social Beat in strahlend gelb auf der Treppenstufe. Beat, klickt es in meinem Kopf. Burroughs, antwortet das Buch mit einem Zitat auf einer jenseits der Mitte aufgeschlagen Seite, und taucht von Timbuktu in Gedankenfetzen von Klaus Maekschen direkt weiter nach Tanger, in die Stille jenseits der Stadt.

"It might or might not be a dream, and
which way it falls might be in the balance
while I watch this tea glass in the sun"

das unsichtbare Buch,
das Leben
wie es sein sollte

aqui y ahora

wüste ist stille
unbeschreibliche stille
kein wort passt hier

Aqui y ahora. Ich kritzele die 3 Worte in mein kleines Notizbuch, und nehme sie mit auf meine Reise zu den Orten, die auf der Landkarte nichts als kleine weiße Kreise mit danebenstehendem Namen sind, und dabei zusammengefügt fast ein Haiku ergäben:

inn imst tumpen oetz
heiterwang und namlos
umhausen bei gries

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Am Montag morgen dann nach Hause, um Dienstags einen Tag zwischen den Alpen daheim zu sein, um nach dem Wetter in den Delfinalpen zu sehen, und um das passende Buch für Frankreich zu finden. Simone de Beauvoir? Sartre? Da war doch noch - genau. Eines mit Meer. Marguerite Duras. Der Matrose von Gibraltar. Lange hat er gewartet. Nun ist es soweit.

Man entdeckt, was man zu entdecken vermag, in dem Alter, in dem man es vermag, und bei der Gelegenheit, bei der man es vemag.

Was so auch für das Buch selbst gelten könnte. Und für die französichen Alpen, deren persönliche Entdeckung durch ein ausgebreitetes Regengebiet über Italien erfolgte. Womit sich wiederum die Parallele zum Buch ziehen lässt, das von einer Reise handelt, die in Pisa beginnt, nach Florenz führt, weiter nach Rocca - und von dort, per Yacht, auf der Suche nach dem Matrosen von Gibraltar - nach Sète. Einem Ort, der mir bis zu dem folgendem Montag noch unbekannt war. Bis zu der Zeit, an dem wir an der Autoroute an eben diesem Sète vorbei fuhren.

Epaminondas hatte den Beruf gewechselt. Er war Lastwagenfahrer geworden, auf der Strecke Sète-Montpellier. In Ausübung diese Berufs war er dem Matrosen von Gibraltar begegnet. Der Matrose von Gibraltar hatte ebenfalls sozusagen den Beruf gewechselt. Er betrieb eine Tankstelle auf der Nationalstrasse ausgerechnet zwischen Sète und Montpellier. Sie lächelte, als sie das hörte. Ich auch.

Und - ich auch. Nichts besseres, als auf einer Reise auf solche unerwarteten Begebenheiten und Verknüpfungen zu stoßen. Daran erinnert zu werden, das die Welt ein Mosaik aus ebensolchen Verknüpfungen ist. Dass es deswegen soviele Bücher gibt, in denen eine Reise vorkommt. Denn unterwegs fällt das Mosaik mehr auf. Denke ich. Lese weiter. Und komme, einmal mehr, in Tanger an.

Doch diesmal schloss sich Tanger nicht um mich, im Gegenteil, die Stadt breitete sich immer weiter aus, und ich hätte glauben können, ich würde nie an ihr Ende gelangen, sondern würde, bei den Cafès auf dem Platz angekommen, mein Leben lang dort bleiben. Ich war verzweifelt glücklich.

Tanger. Eines Tages sollte ich doch einmal dorthin reisen. Dort in einen Zug nach Marrakesh steigen. In die Wüste gehen. An einem Schiff als Supernumerary anheuern und mit über das Mittelmeer fahren. Wie anders die Welt vom Wasser aus anzusehen wäre. Wellenläufe statt Strassenzüge. Strömungen statt Autobahnen. Wie viel besser das wäre als das Gegenstück, von dem Jay McInenerey erzählt, in einem der Bücher, das im Original einen so ganz anderen Titel trägt als in der Übersetzung. "Bright Lights, Big City" statt "Ein starker Abgang". Und das mich von Tanger aus auf die andere Seite des Atlantiks befördert, während ich am Strand von Narbonne sitze und aufs Meer schaue.

Du setzt dich auf einen Poller und schaust hinaus auf den Fluß. Flußabwärts erkennst du im Dunst die Freiheitsstatue. Am anderen Ufer heißt eine riesige Colgate-Reklametafel dich in New Jersey, dem Garden State, willkommen. Du siehst zu, wie eine Müllschute, eingehüllt in eine Wolke kreischender Möwen, würdevoll vorübergleitet und Kurs aufs offene Meer nimmt. Da bist du also mal wieder. Alles verpfuscht und kein Ort nirgends.

Kein Ort nirgends. War das nicht auch eine Zeile in dem Kerouac-Buch, das auch am Wasser beginnt, jedoch praktischerweise gerade daheim in einem Regal steht, und bei dem die deutschen Verleger gleich vorneweg auf eine Übersetzung des Originaltitels verzichtet haben? Lonesome Traveller. Erst da fällt mir auf, dass auch das Kerouac-Buch, das ich dabei habe, den Originaltitel trägt, deutsche Erstausgabe her oder hin. The Town and The City. Das Dorf in dem Buch ist Galloway. Die Stadt - New York. Und die Stimmung dort knüpft fast direkt an keinen Ort nirgends an.

Peter ging an diesem Tag durch diese lauten lebhaften Straßen. Er sah eine fette, traurig dreinblickende Sopranistin in einer Wohnung singen, offenbar eine Kandidatin für die Metropolitan Oper, wild und verrückt. Über allem standen hoch und erhaben, gleichsam den alten verrußten Dächern entspringend, die Wokenkratzer der Wall Street, fern und stolz und drohend. Er stieg die dunklen muffigen Treppen zu Dennisons Wohnung hoch, bis in den sechsten Stock in diesem düsteren und altersschwachen Mietshaus.

Peter ist Jack. Und Dennison? Ich schaue auf das Wikipedia-Blatt, das weiter hinten im Buch liegt, und einige Erläuterungen zu den Personen in der City enthält. Und lächle, einmal mehr. Will Dennison im Roman ist - William Burroughs. Durch das Will hätte ich draufkommen können, wenn ich nach der Verknüpfung gesucht hätte.

Ein dutzend Seiten tritt dann eine Figur auf, die auf dem Blatt nicht erwähnt ist, dafür umso bekannter wirkt, auch wenn die Figur namenlos bleibt:

Als Peter in Judies Wohung platzte, fand er sie im vorderen Zimmer als Gastgeberin eines jungen Mannes, den sie an diesem Morgen in einer Kneipe kennengelernt hatte. Sie tranken Bier und unterhielten sich. Er war ein junger Seemann, gerade von einer Fahrt nach Brasilien zurück, er trug eine Sonnenbrille, weite Hosen, die unten zusammenliefen, und einen merkwürdig gefärbten Seidenschal um den Hals.

Der Matrose von Gibraltar, denke ich. Markiere die Seite, und mache mir darauf eine Notiz, im Lonesome Traveller nach keinem Ort nirgends zu suchen. Dann stehe ich auf. Die Reise geht weiter.

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Wednesday, August 16, 2006

Ausstieg / Einstieg



Dienstag mittag, kurz vor Vier. Ausstieg aus dem Web und Einstieg ins Auto. Zusammen mit neuer Musik. Gabriel Gordon. Overwhelmed. Überraschend jazzig. Im Kleingedruckten, die Anmerkung: 'Energy Music', als Copynote gedacht, aber auch als Kurzcharakteristik treffend. Genaus wie der Titel des elften Songs, hier, unterwegs zwischen Orten: 'Be Free'. Was mich daran denken lässt, dass Autobahnen im amerikanischen Freeway heißen.

Auf der B27 dann weitere frei schwebende Gedankenstücke, aus dem Europabuch von Paula Fox. Der Kälteste Winter. Nicht gerade ganz passend zur Jahreszeit, aber immerhin gab es diesen August auch hier schon Nebel, allerdings ohne Girlande:

Nach dem Varieté ging ich zum Red Lion Square, ich weiß nicht mehr, warum. Dichter Nebel lag auf dem Platz, und die roten Lichter eines Pubs hingen wie eine Girlande darin. Musik aus einem Radio trieb vorüber. Ich war am Mittelpunkt der Welt. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt. Dann fragte ich mich, ob irgendeinem Menschen der Ort, an dem er sich befindet, nicht wie der Mittelpunkt erscheinen mochte.
Am nächsten Nachmittag nahm ich das Flugzeug nach Prag.

Statt Flugzeug gibt es für mich die Ausfahrt Kunsthalle im Philosophenweg. Franz Gertsch wartet dort. Und eine Überraschung: ein Literaturcafe. Ich drehe mich am Eingang im Kreis, vom Blick nach Tübingen geht der Blick in die Halle, zu Bildern die so groß sind, dass man sie vom Eingang aus betrachten kann. Monate malt Gertsch an einem Bild. An den Strukturen von Wasser und Stein. Von Augen und Haaren. Von Hintergrund und Vordergrund.

Warum das Überformat, frage ich mich als ich dann direkt vor den Bildern stehe, vor Medici und Saintes Maries de la Mer, vor Luciano und Patti Smith, vor Verena und Nadja.

Bei den Gräsern fällt mir ein Zitat vom Lyrik-Rundgang auf dem Tachenhäuser Hof ein.

Wenn wir fähig wären, nur eine einzige Blume in ihrem ganzen Wesen zu sehen, würde das unser Leben verändern.

Vielleicht ist es das, denke ich, und greife nach dem Japan-Papier, das neben dem Wasser-Triptychon liegt, zum Anfassen. Vielleicht auch deshalb Japan, werde ich später denken, bei der Suche nach dem Zitat mit der Blume. Eine Suche, die mich direkt zu einer Zen-Geschichte in Wikipedia bringt.

Der Legende nach soll der historische Buddha Shakyamuni seiner Schülerschar einst eine Blume gezeigt haben, die er zwischen seinen Fingern drehte. Nur sein Schüler Mahakashyapa verstand diese Geste unmittelbar als zentralen Punkt der Lehre Buddhas und lächelte.

Von Buddha leitet mich die Suche dann weiter zu einem der wenigen wörtlichen Zitate von Gertsch im Netz, direkt verknüpft mit einer Erläuterung, in einem Artikel über "Den Magier des realen Bildes":

Wir haben im Tessin Ferien gemacht. An einem Tag habe ich mich freigemacht und den Monte Lema erstiegen. Und auf diesem Berg habe ich gesagt: "Jetzt hab ichs," zitiert AFK aus einem 1994/95 publizierten Interview des Künstlers. Gemeint ist die Erkenntnis Gertschs, dass er nicht einen Stil suchen, sondern lediglich festhalten müsse, was sich ihm (via Kamera) zeige. Das war 1969 und zugleich der Beginn der diapositiv-unterstützten Malerei.

Der Ausstieg aus der Ausstellung fällt leicht - bildet er doch den Einstieg ins Literaturcafe. Dort gibt es, fast wie zur Ausstellung ausgewählt, japanischen grünen Tee in großen weißen Tassen. Dazu eine ganz andere Einsicht, die aber zumindest am Anfang von einem ähnlichen Hochgefühl begleitet wird. Großansichten vom Nachmittagsfernsehen, beschrieben im neuen Buch von Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus.

Es war kein Zufall, dass dort stundenlang Menschen redeten, die keinen vollständigen Satz formulieren konnten. Wenn das Ganze auf den ersten Blick keinen Sinn ergab, dann mußte es doch wenigstens in irgendeinem größeren Zusammenhang stehen. Warum sonst sollte man so etwas im Fernsehen zeigen, im offiziellen Fernsehen, dachte Herr Jensen.
Daher hatte er sich vorgenommen, sein Talent dazu einsezusetzen, der Lösung des Problems auf die Spur zu komme, den Sinn zu ergründen. Es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass er das Ganze verstehen konnte, wenn er nur lange genug darüber nachdachte. Ausreichend Zeit hatte er ja. Vielleicht war das die Aufgabe, auf die er so lange gewartet hatte.

Und so widmet er sich der Aufgabe. Nimmt Sendung über Sendung auf. Sucht nach den Mustern, die erst im größeren Zusammenhang oder mit größerem Abstand erkennbar werden. Wie die Vorhangmuster in den Gertsch-Bildern, die eine weitere Bedeutung daher erhalten, dass sie in einem zweiten Bild auftauchen. Und, stelle ich überrascht fest, als Variante auf dem Buchcover. Es ist alles verknüpft, scheint es. Und die Antwort? Könnte unsere angenommenen Muster zerschneiden. Vielleicht stellen wir daher manchmal lieber die Suche ein. Bleiben bei den Strukturen, die wir kennen, die uns geläufig sind. Bei den kleinen Sachen, die Zeit machen. Die den Raum auf die gewohnte Art füllen. Die uns vor der möglichen Folge bewahren, die Herr Jensen trifft:

Herr Jensen seufzte erschöpft. Seine Arbeit hatte ihm die Augen geöffnet und war dennoch vollkommen sinnlos gewesen.

Und dann steigt er aus. Aus den ganzen Mustern des Lebens. Und ich steige ein, in mein Auto, und fahre auf dem gleichen Weg nach Hause, auf dem ich auch hergefahren bin, und der doch vollkommen anders aussieht in der anderen Richtung.

Später am Abend dann, Sterne. Und die letzte Seite des Paula Fox Buches. Die mit einem kleinen Satz über die großen Dinge aufwartet, als Nachgedanke zu einem Blick bei einem Observatorium, und auch zu dem Tag.

Es kam mir vor, als wäre ich auf einer Schaukel durchs Weltall geschwungen, deren Seile sich aus den unvorstellbaren Tiefen ringsum erstreckten. Auf der Fahrt zurück nach Sleepy Hollow sagten die Jungen kein Wort. Ich hörte jemanden seufzen.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich ihr Schweigen begriff. Zuerst hatte ich mir vorgestellt, dass sie Dinge gesehen hatten, die größer waren als sie selbst, die ihnen eine neue Sicht auf ihr Leben, auf alles Leben gewährten. Aber inzwischen glaube ich, sie waren still, weil sie im Observatorium der Columbia University zum ersten Mal etwas anderes als sich selbst gesehen hatten.

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Tuesday, August 01, 2006

Ithaka



Gedankenreisen an einem Sonntagmorgen in Köngen. Dort, zwischen Büchern, ist es nur ein Schritt von Homers Odyssee, deren Ziel eine Insel namens Ithaka ist, und damit die Heimat, zu Kubricks Odyssee, deren Ziel - und das fällt mir jetzt erst im Nachhinein auf - sich am dazu gegengesetzten Pol befindet, in der unendlichen Ferne, jenseits der Erde, jenseits des Alls.

Wo waren wir? Oder bessergefragt: Wohin gehen wir?
Auch dazu, zwei Antworten: Immer nach Hause. Oder, etwas geometrischer gesehen: Das Wohin ist unwesentlich. Die Erde ist rund.

Was offensichtlich einer der auslösenden Faktoren für Weltreisen ist: dieser Gedanke, dass sich, auch wenn man sich immer weiter in eine bestimmte Richtung bewegt, und sogar: besonders wenn man dies tut, aus der Bewegung entlang einer Linie im wirklichen Raum eine Kreisbewegung entsteht. Und daraus dann, früher oder später, Bücher mit dem Titel „In 80 Tagen um die Welt“ oder, etwas neuzeitlicher: „87 Tage blau – Logbuch einer Erdumrundung“:

1. Tag
Auslaufen Rotterdam
Ich habe mir ein Schiff gefunden, dessen Reeder glaubhaft versichert, es werde so lange gen Westen fahren, bis es aus dem Osten wiederkommt. Und dieses Schiff wird mich mitnehmen, für drei Monate. Als sogenannten S.N., als supernumerary. Der Überzählige bin ich, der Überflüssige, der unnütze Passagier. Ich darf fast alles, muss fast nichts und werde infolgedessen nur bedingt ernst genommen. Das ist in Ordnung. Ich will ja nur einmal, einmal herum kommen um diese Erde, einmal ans Ende gelangen. Dabei mich herausfallen lassen aus der Zeit und sehen, ob mich etwas auffängt.

- Peter Schanz

Dieses Gefühl, sich aus der Zeit herausfallen zu lassen. Es begegnet mir am gleichen Tag an unerwarteter Stelle wieder: in Liebesleben, dem eigensinnigen Buch von Zeruya Shalev. Dort entscheidet sich eine Frau dafür, nicht auf die Reise zu gehen, und kommt dadurch genau zu diesem Punkt.

Woran dachte er, dieser Mann allein im Café über dem Friedhof, was ging in seinem Kopf vor, wofür lebte er eigentlich, was hatte er von seinem Leben, was hatten alle von ihrem Leben, das schien mir ein immer größeres Geheimnis zu sein. Was hatte mich gehalten, bevor ich ihn traf, plötzlich wußte ich das nicht mehr, die Tage kamen mir im nachhinein leer und langweilig vor, wie unbeschriebene Blätter, von denen eines aussah wie das andere, noch viel beängstigender als meine Tage jetzt, vielleicht ging es mir nicht darum, ihn zu bekommen, sondern ihn loszuwerden, ihn und durch ihn auch mich, uns alle, nicht, daß mir klar gewesen wäre, wen ich damit meinte, aber ich hatte angefangen, im Plural zu denken, als wäre ich dann nicht mehr so allein mit meinem überflüssigen Auftrag, sondern die autorisierte Vertreterin einer ständig wachsenden Anzahl von Personen, eine Vertreterin, die ihr Leben im Bett des Verdächtigen aufs Spiel setzte, um Wissen zu sammeln, das Licht auf etwas werfen konnte, von dem ich nicht wußte, was es war, aber wenn man es das Geheimnis des Lebens nannte, mußte das nicht falsch sein.

Und parallel zum Zeilen schreiben, gerade Marc Cohn, Would you walk through this world with me. Ohne die Frage, wohin.

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Friday, July 14, 2006

blogweek



this week, i finished the Milan Kundera book, and added some lines from it to my German blog together with a photo collage of being there: "Vom Leben und der Unendlichkeit".

how i like those collages.

it really is a way to let go of the leaflet words and libary pages, while treasuring their imprint in the virtual world. which also goes for the other moments of the week - together they turned this week into mo(nu)ment mail blog read phone dig in the garden make a cinema date sweep the floors sort the shoes see my chiropractice - week. all those things that waited to be done. i even had the mood to fix that black trouser that needed fixing since about 3 years. and now it's perfect for the hot weather.

Monday, July 10, 2006

Vom Leben und der Unendlichkeit



4 Tage in Prag. Moldau, Wenzelsplatz, die Burg, der jüdische Friedhof, Nove Mesto, Mala Strana. Miss Sofie und Trinidad. Museum Kampa, Frantisek Kupka & Otto Gutfreund. Palace Kinskych, Landscape in Czech Art. Wallenstein Riding School, Albrecht Dürer. Eine Ecke weiter, das Franz Kafka Museum.

14 Tage später hallen die Momente in der Bücherei nach. Ka, denke ich. Ka wie Kafka. Ka wie Kundera. Und: Ka wie Kerouac. Standen diese Bücher schon immer hier? Das Zeichen für eine gute Reise: wenn sie auch nach dem Heimkommen zu neuen Orten führt.

Ich ziehe ein Buch von Kundera aus dem Regal, mehr von der Farbe und dem Titel geführt als von literarischen Empfehlungen. „Die Unwissenheit“ heißt das Buch. Es spielt in Paris und Prag, verrät die Rückseite. Und handelt vom Leben und der Unendlichkeit. Dabei erläutert es fast beiläufig die Vergangenheit des Landes, das so lange Zeit jenseits der Mauer lag.

Die Geschichte der Tschechen in diesem Jahrhundert schmückt sich aufgrund der dreifachen Wiederholung der Zahl Zwanzig mit einer bemerkenswerten mathematischen Schönheit. 1918 bekamen sie nach mehreren Jahrhunderten ihrem unabhängigen Staat und 1938 verloren sie ihn wieder.
1948 eröffnete die aus Moskau importierte kommunistische Revolution mit Terror den zweiten Zeitraum von zwanzig Jahren, der 1968 zu Ende ging, als die Russen, wütend über seine freche Emanzipation, das Land mit einer halben Million Soldaten überfielen.
Im Herbst 1969 richtete sich die Besatzungsmacht mir ihrem ganzen Gewicht ein und zog, ohne dass jemand es erwartete, im Herbst 1989 friedlich, höflich wieder ab, wie es damals alle kommunistischen Regime in Europa taten: die dritten zwanzig Jahre.
..
Während dem, was ich ihre ersten zwanzig Jahre nenne, (zwischen 1918 und 1938), glaubten die Tschechen, ihre Republik hätte eine Unendlichkeit vor sich. Sie irrten sich, aber gerade weil sie sich irrten, haben sie diese Jahre in einer Freude verlebt, die ihre Künste zum Erblühen brachte wie nie zuvor.
Da sie nach der russischen Invasion nicht die geringste Ahnung vom baldigen Ende des Kommunismus hatten, stellten sie sich wiederum vor, in einer Unendlichkeit zu leben, und nicht das Leid ihres realen Lebens, sondern die Leere der Zukunft hat ihre Kräfte erschöpft, ihren Mut erstickt und diesen dritten Zeitraum von zwanzig Jahren so feige, so erbärmlich gemacht.


Der Schatten dieser dunklen Jahre, er zeichnet die Strassen von Prag immer noch. Viele der alten Gebäude sind renoviert, neu gestrichen, in hellen Farben. Doch die Statuen der Vergangenheit tragen noch schwarz. Die Bilder, die auf der Karlsbrücke an den Verkaufsständen hängen sind bunt. Die Bilder im Kampa Museum sind es nicht. Die Viertel an der Moldau wirken fast unwirklich. Wie eine Zeitbühne. Wie aus einem Traum. Ob Kerouac hier war? Im Kampa Park, in der Nacht?

Ich hab auch vom Park geträumt, 'der gewohnte Staub unter den Füßen' war eine prophetische Phrase des Traums, und in ihm liegen Mord oder Entsetzen oder Tod, Abenteuer in der schicksalhaften Düsternis - die Gershom Wohnblocks, die Omaha Garage, Riverside Street und der riesige Eisenbaum - die alten Häuser, darunter Friedhöfe, die versunkene Düsternis der Verlorenen
Nun in die Einsamkeit
tauche ich noch einmal ein
im eigenen schweigenden Raum
des heiteren Geistes
mich and die Welt
erinnernd

Steht dort. In Jack Kerouac's Traumtagebuch. Veröffentlicht 1961, in San Fransicso. Im Vorwort, das ich erst nach einigen Träumen lese, dann die Verknüpfung der Träume mit den Büchern, und einen kurzen Paragraph weiter, mit dem Leben, dem Kommunismus und der gesamten Welt.

Die Tatsache, dass jeder in der ganzen Welt jede Nacht träumt, die gesamte Menschheit miteinander darin verbunden ist, sozusagen eine stillschweigende Vereinigung. Hier liegt auch der Beweis dafür, dass die Welt tatsächlich transzendental ist, was die Kommunisten nicht glauben wollen, weil sie ihre Träume für 'unwirklich' halten, anstatt für Visionen dessen, was sie in ihrem Schlaf gesehen haben.

Im Gegensatz dazu, Kafka. Bei ihm findet sich die Welt im Mikrokosmos, in seinen Büchern, die in wenigen Räumen spielen, oder in einem achtzigseitigen Brief an den Vater, in dem Kafka im Alter von 36 Jahren noch einmal zurück in seine Vergangenheit geht, zu all den Dingen, die ihn nicht ruhen lassen, und in dem er in wenigen Worten wie in einem Spiegel ein schmerzhaftes Porträt seiner selbst zeichnet.

Die Schwestern gingen nur zum Teil mit mir. Am glücklichsten in der Stellung zu Dir war Valli. Am nächsten der Mutter stehend, fügte sie sich Dir auch ähnlich, ohne viel Mühe und Schaden. Du nahmst sie aber auch, eben in Erinnerung an die Mutter, freundlicher hin, trotzdem wenig Kafkasches Material in ihr war. Aber vielleicht war Dir gerade das recht, wo nichts Kafkasches war, konntest selbst Du nicht derartiges verlangen; Du hattest nicht, wie bei uns anderen, das Gefühl, daß hier etwas verlorenging, das mit Gewalt gerettet werden müßte.

Die Elli ist das einzige Beispiel für das fast vollständige Gelingen eines Durchbruches aus Deinem Kreis. Von ihr hätte ich es in ihrer Kindheit am wenigsten erwartet. Sie war doch ein so schwerfälliges, müdes, furchtsames, verdrossenes, schuldbewusstes, überdemütiges, boshaftes, faules, genäschiges, geiziges Kind, ich konnte sie kaum ansehn, gar nicht ansprechen, so sehr erinnerte sie mich an mich selbst, so sehr ähnlich stand sie unter dem gleichen Bann der Erziehung. Besonders der Geiz war abscheulich, da ich ihn womöglich noch stärker hatte. Geiz ist ja eines der verlässlichsten Anzeichen tiefen Ungücklichseins. Ich war so unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich nur das besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt, oder was wenigstens auf dem Wege dorthin war, und gerade das nahm sie, die in ähnlicher Lage war, mir am liebsten fort.

Das tiefe Unglücklichsein. Und gleichzeitig, die Unerträgliche Leichtigkeit und Schwere des Seins. Sie bringt mich zurück zu Kundera, zu der Zeile, die sich fand, dort in Prag in einem Buch namens "The Coasts of Bohemia," in einem Buchladen names Anagram.

We shall flee rest, we shall flee sleep,
We shall ouststrip dawn and spring
And we shall fashion days and seasons
To the measure of our dreams.

Das Maß unserer Träume. Das Leben, anderswo, hier. Und all die Bücher, die Geschichten, die Verknüpfungen und Wege, die sich daraus ergeben. Danke dafür, Ka.

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Thursday, June 22, 2006

Sanjamatsuri



Projekt einer Reise nach China. Stand auf der ersten Seite des Buches von Susan Sontag. Das war alles, was es gebraucht hat. Daheim dann, ein paar Tage später, Kapitel XIII.

Ich werde die Chum-Chum-Brücke überqueren. In beiden Richtungen. Und danach? Niemand wird überrascht sein. Danach kommt die Literatur. Bei den sogenannten Romantikern des vergangenen Jahrhunderts bestand das Ergebnis einer Reise nahezu immer in der Hervorbringung eines Buchs. Man reist nach Rom, Athen, Jerusalem - und auch weiter - mit der Absicht, darüber zu schreiben.
Vielleicht schreibe ich das Buch über meine Reise nach China, bevor ich fahre.

Parallel dazu, eine Karte aus Japan, abgeschickt in Kyoto, einem Ortn den ich nur vom danach benannten Umweltabkommen kenne. Auf der Rückseite, geschwungene Zeilen, handgeschrieben, fast wie ein Gedicht. Und darunter, eine winzige gedruckte Bildunterschrift, die erklärt, was man sieht.

On our first day
in Tokyo we joined
the masses,
it was
pretty cool,
off to Kyoto
this afternoon.


Sanjamatsuri - one of the famous festivals in Asakusa, Tokyo.
This event will held in May every year.


Neben dem Text, ein blauer Luftpost-Sticker in 3 Sprachen: englisch, französich und japanisch. Aber am unerwartetsten ist das Motiv der Briefmarke: eine Blaumeise. Oder der asiatische Zwilling davon.

Im Koki dann eine Reise für mich: Die große Stille. Sie beginnt auf einer Brücke über dem Wehrwasser des Neckars, mit Blick zur Burg, zum Junihimmel. Vielleicht liegt es an ihm, dass ich eine halbe Stunde später das erste Motiv des Films nicht erkenne: wirbelnder Schnee vor einem weißem Horizont in La Chartreuse, in den französichen Alpen. Dort, ein Kloster, in dem Gröning den Film über die Stille gedreht hat, in unkommentierten Sequenzen, in meditativen Bildern.

Und je vertrauter die Orte werden, desto stärker treten die Geräusche hervor, das Tropfen des Tauwassers, knarrende Dielen, Schritte, Huschen, Schlurfen. Die Stille beginnt zu leben. Und in diesem Augenblick nimmt einen die Eigentümlichkeit dieses Schweigens gefangen, die Stille beginnt ihre Poesie zu entfalten.

Und ich finde mich wieder, im Yogasitz auf einem Kinosessel, vor mir das Bild eines roten Tores, es ist Frankreich, es könnte auch Asien sein. Ein Begriff fällt in die Bilder, in weichem französisch: solitaire joyeux, fröhliche Abgeschiedenheit. Mon Dieu. Wie anders Worte in einer anderen Sprache klingen. Wie anders das Wehrwasser nach dem Film klingt. Wie viel Zeit es gibt, den Enten zuzusehen, dem Lauf der Wellen.

Im Briefkasten, in der gleichen Woche, ein weiteres Echo: eine Karte aus Les Gorges du Verdon. Und auch auf dieser Karte, eine Briefmarke die sich einfügt wie ausgesucht: eine Blume mit Frauengesicht, der Blick nach oben gerichtet, zu einem Paar Vögel, das den Himmel durchquert.

Dazu im Sontag-Buch die abschließende Geschichte. Ohne Reiseführung. Inklusive einer leisen Warnung.

Man muß sich hüten vor der Frage, ob die Freuden dieses Jahres die vom letzten übertreffen. Sie tun's nie. Das muss die Verführungskraft der Vergangenheit sein. Aber warte nur bis aus dem Jetzt damals wird. Du wirst sehen, wie glücklich wir waren.

Wie war nun noch einmal das Wort für Wunschlosigkeit, denke ich dann später, auf den Stufen der Treppe. Nicht Sanjamatsuri. Aber so ähnlich. Ich richte meinen Blick nach oben, suche mit den Augen ein Paar Vögel, das erst seit diesem Jahr hier zu sehen ist. Rote Milane. Sie fliegen heute woanders. Dann fällt es mir ein: Samsara.

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Sunday, June 11, 2006

Schlafes Bruderbuch



Eigentlich lag noch Kafka im Regal, halb gelesen. Doch für das Wochenende im Schwarzwald klang Kafkas Zeit zu weit weg. Und so kam ich zurück zu Schlafes Bruder, ein Buch, das ich schon vor Mallorca in der Hand gehalten hatte. Nun passt es, Bergdorf im Buch zu Taldorf der Reise. Auch wenn die erste Seite noch fremd wirkt beim Lesen in seiner Unmittelbarkeit und Altertümlichkeit, und in der Art, mit der sie den Schluss der Geschichte im ersten Satz vorwegnimmt:

Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.
Denn er war in unsägliche und darum unglückliche Liebe zu seiner Cousine Elsbeth entbrannt und seit jener Zeit nicht länger willens, auch nur einen Augenblick zu ruhen, bis dass er das Geheimnhis der Unmöglichkeit seines Liebens zugrunde geforscht hätte.


Tod, des Schlafes Bruder, der am Fluss wohnt. Bei dem Stein, auf dem der junge Elias schon sass. Zu dem er mit Elsbeth zurückkehrt, und dann am Ende, ohne sie. Wobei die tiefere Tragik seines Lebens nicht diese unerfüllte Liebe ist, sondern die Gabe, die Elias besitzt, und die keinen Raum und kein Verständnis findet, nicht bei seinen Eltern, nicht bei seinen Lehrern, nicht bei einer einzigen Person, die den Unterschied hätte mache können, die ihm die Tür zu sich selbst hätte öffnen können.

Gesetzt man hätte ihnen damals ins Gesicht schreien dürfen, dass sich an jenem Nachmittag Johannis 1803 unter ihren Augen ein doppeltes Wunder ereignet hatte, das der Mensch- und das der Geniewerdung, sie hätten nichts begriffen. Was aber das Schlimmste ist: Als die Begabung dieses Menschen längst offenkundig war, wollte es noch immer niemand begreifen.

Später, bei der Fahrt Richtung Schauinsland und Feldberg, dann zwischen den kleinen Dörfern die Erinnerung an einen Gedanken, der im Einsteinjahr in einem Interview fiel - dass die wirkliche Frage nicht ist, was einen Menschen zu einem Genie wie Einstein macht, sondern wieviele Menschen es gibt, welche über geniale Gaben verfügen, die unentdeckt verkümmern.

Dann, eine Woche später, das Gegenstück zu der Geschichte, in einem Buch das gleichzeitig aus den USA und aus der Stadtbücherei hier stammt: Wir müssen über Kevin reden. Schon äußerlich bildet es einen Kontrast: rot und dick und gebunden, wo Schlafes Bruder klein und blau und flexibel ist. Die Gegensätze setzen sich im Inneren fort, auf so vielen Ebenen dass mir am Anfang die Verwandschft der Bücher nicht bewusst wird.

Schlafes Bruder ist die Geschichte eines Sohnes, der seinem Leben ein Ende setzt, als er gerade einmal etwas über zwanzig ist. Das Kevin-Buch ist die Geschichte der Mutter eines Sohnes, der dem Leben anderer ein Ende setzt, als er gerade noch als Kind zählt: drei Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag. In Schlafes Bruder steht die Mutter fast wie eine Fremde neben ihrem Kind, überlässt es sich selbst, und sieht sich in keiner Verantwortung. Im Kevin-Buch gibt die Mutter ihr bisheriges Leben auf, um für ihr Kind dazusein, sieht alles, was geschieht, findet trotz aller Versuche keinen Weg, zu ihrem Sohn durchzudringen, und gibt sich am Ende doch die Schuld für das, was passiert ist.

„Ich weiß, es ist meine Schuld“, sagte ich trotzig. „Ich war keine sehr gute Mutter – ich war kalt, kritisch, egoistisch. Obwohl Sie nicht behaupten können, dass ich nicht dafür bezahlt habe.“
„Na, wenn das so ist“, sagte die junge Frau mit kehliger Stimme und schloß die paar Zentimeter zwischen uns, veränderte ihrer Blickrichtung und sah mir direkt in die Augen. „Sie können Ihrer Mutter die Schuld geben, und die kann ihre beschuldigen. So ist es wenigstens früher oder später die Schuld von jemandem, der tot ist.“
Abgestumpft vor lauter Schuld, an die ich mich klammerte wie ein kleines Mädchen an seinen Plüschhasen, konnte ich ihr nicht folgen.


Eine überrschende Übereinstimmung gibt es dann doch. Am Ende steht in beiden Büchern nicht die Frage nach der Schuld und dem Schicksal, sondern die vielleicht schwierigere Frage - die nach der Liebe.

"Jetzt fehlen noch drei Tage, dann sind die achtzehn Jahre voll, und ich kann endlich verkünden, und sei es nur aus Verzweiflung oder sogar nur aus Faulheit: Ich liebe meinen Sohn."
Die Kinder blickten sie mit runden, braunen Augen an. Da trat Cosma, der Älteste, zur Mutter hin und frug mit verstellt erwachsener Stimme: "Frau Mutter, was meint Liebe?"
"Was Liebe meint?" lachte die Lukasin, küßte ihm sein glänzendes Knollennäschen und zog ihm die Kapuze über den Kopf. Denn der Regen hatte wieder eingesetzt.

Diesen Dialog gibt es so nicht wirklich. Er ist zusammengesetzt aus den letzten Zeilen der beiden Geschichten, in textlicher Verbrüderung. Und nun, Sonntag. Und ein gewisses Aufatmen dabei, dieses Buchpaar wegstellen zu können, und das Buch, das seit Montag auf seinen Tag wartet, aus dem Regal zu ziehen: Susan Sontag - Ich, etc.

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Wednesday, May 31, 2006

Wasserhahn & Wolkenherz



Eine Woche, die mit Wasserhahnworten beginnt. Sink faucet heißt selbiger Hahn im Englischen. Oder, für draußen: hose bibb. Was einen dann dazu bringt, sich zu wundern, wie der Hahn in die Wasserleitung kommt. Und wie Worte überhaupt entstehen.

Dazu dann eine Aufgabe aus dem Web: "Use words in your art or create a piece of art using words alone" - Eine Aufgabe, die auf englisch leichter klingt als auf deutsch: "Gebrauche Worte in deiner Kunst, oder erschaffe ein Stück Kunst durch den Gebrauch von Worten." All die Worte, denke ich. Und finde mich und die Lösung im Garten, der aus Buchstaben wächst: in the garden of words

Zwei Tage später dann Esslingen. Auf ein Abendessen ins Barista, und davor noch bei der Bücherei vorbeischauen. Doch dann begegnet mir auf dem Weg zur Bücherei das Plakat der Esslinger Romantikwochen. Und so biege ich nach rechts ab, in das kleine Stadtmuseum, um dort in alten Märchenbüchern zu blättern. Zwischen den Büchersofas, eine Malecke mit Blick auf den Hafenmarkt. Der nicht am Hafen liegt, sondern von den schwäbischen Tonwaren namens Häfele kommt. Häfele, Täfele; Stöffele, Pantöffele, reimt es in meinem Kopf, während ich in den angefangenenen und liegengelassenen Blättern blättere. Und ein kleines Kunstwerk aus Linien und Worten dort hervorziehe. Das verschossene Wolkenherz. Das ist für mich, denke ich, und mache mich auf den Weg zum Barista, dem Bar-Ristorante.

Dort warten schon Inge und Anne-Katrin, die von der ganzen Wortgeschichte nicht ein Wort wissen. Doch das Thema scheint auch ohne Worte seine Runde gemacht zu haben. "Ich habe ein Buch mitgebracht, ich dachte, es könnte euch interessieren," sagt Anne-Katrin. Woher kommt das schwarze Schaf, heißt das Buch. Und beantwortet dort, zwischen Pizza Rucola und Minestrone auch die Frage, woher der Wasserhahn kommt: von der Form des Hebels, der früher an Wasserleitungen den Fluss des Wassers regelte.

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Wednesday, May 10, 2006

Vom Wasser



Sonntag im Flieger. Wolken über Deutschland, die sich weiter nach Frankreich ziehen. Auch weiter nach Spanien, Barcelona, die Küste, das Meer, sie alle sind mit dem Wolkenteppich bedeckt. Erst beim Landeanflug bekommt man etwas Mallorca zu sehen. „Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt,“ sagt die Stewardess über den Bordlautsprecher. Und: „Bitte verlassen sie das Flugzeug durch den vorderen Ausgang.“

Also Jacke wieder an, Rucksack auf, einreihen. Sich wünschen, man hätte den Regenschirm als symbolische Geste der Akzeptanz gegenüber der Allmacht von Petrus doch eingepackt, anstatt ihn demonstrativ zu Hause liegen zu lassen.

Immerhin hatten wir ja die letzten Jahre schönes Wetter, denke ich, versuche mich angesichts der stockenden Menschenschlange schon einmal in Gleichmut zu üben, gehe einen halben Schritt weiter und sehe – ein Taschenbuch. Das dort vergessen zwischen Duty-Free-Magazin und Focus Money steckt. Ich angle es aus dem Netz. Und muss lächeln. Es ist: „Der Schwarm“. Der Ozeanthriller von Frank Schätzing, den ich vom Buchabend kenne. Ein Buch, das ich mir selbst wohl nicht gekauft hätte. Und dass ich nun hier finde, und aufschlage, auf einer zufälligen Seite. Um über das Warten zu lesen.

Nach einer Weile änderten die beiden Inuit in dem zuvorderst fahrenden Qamutik die Fahrtrichtung. Einen Moment war Anawak verwirrt, dann sah er, dass sie eine klaffende Eisspalte umfuhren. Jenseits der bläulichen Kante war schwarzes, unergründliches Meerwasser zu erkennen.
"Das kann ein bisschen dauern", meinte Akesuk.
"Ja, es kostet Zeit", nickte Anawak.
Akesuk krauste die Nase.
"Nein. Warum sollte es welche kosten? Wir opfern keine Zeit. Wir behalten sie, ob wir nun direkt nach Osten fahren oder erst ein Stück weiter nördlich. Hast du alles vergessen? Hier ist nicht wichtig, wie schnell du ankommst. Wenn du einen Umweg fährst, findet dein Leben trotzdem statt. Keine Zeit ist verloren."

Und die Zeit für den Schwarm ist also hier auf Mallorca, denke ich und nehme das Buch mit. Ohnehin, welch besseren Ort gäbe es ein Buch über die Meere und das andere mögliche Leben darin zu lesen als am Meer selbst?

Dann der Bus, warten bis alle angekommen sind, bis die Dame vom Reisebüro da ist und verkündet, dass es jetzt los geht, und man sich ab nun nur zurückzulehnen bräuchte, da ab jetzt sie sich um alles kümmern würde, und daraufhin dann winkend aussteigt und uns unserem bewölkten Schicksal überlässt. Die bewölkten Wendungen setzten sich dann auch beim Eintreffen in Pollenca fort: leider ist die Anlage fast voll belegt, und so gibt es für uns nicht das gewünschte Appartment mit Terrasse am Teich, sondern die Variante eine Ecke weiter, am Weg zum Pool. Wir packen unsere Sachen aus, und schauen dann ob der kleine Laden offen hat. Hat er Sonntags nie. Also gut. Dafür laufen wir in einem Akt der Selbstfrustration eine Extrarunde durch die Anlage, um die anderen Appartments anzuschauen. Vor einem Doppelappartment mit integriertem Palmengarten und passendem Palmenloch im Dach bleibt Ronnie stehen. „Das ist ja auch knuffig,“ meint er. Dann laufen wir zurück zu unserem unknuffigen Heim.

„Na gut,“ sage ich zu Ronnie, „dafür wird es ja nun sonniger. Und lieber besseres Wetter als besseres Appartment. Und eigentlich ist es ja auch ganz okay.“ Was stimmt, bis auf die Atmosphäre. Verraucht. Oder eher: Bedrückt. Als ob die Vormieter hier ihre schlechte Laune zurückgelassen hatten. Ich mache die Türen auf, denke ernsthaft daran, Räucherstäbchen zu kaufen. Irgendetwas ist mit dem Raum, ist in dem Raum. Ein Gedanke, der noch verstärkt wird durch das Buch, das ich lese: Schattengäste von Joan Aiken. Auch eines dass ich nicht selbst ausgesucht habe: meine Cousine hat es aussortiert, meiner Mutter gegeben, und sie hat es dann an mich weitergereicht. Und so finden mich die Fragen von Cosmo, dem Jungen im Buch, nun hier:

"Aber – wenn es andere Dimensionen gibt – kann dann eine Verbindung bestehen zwischen dem, was dort geschieht – und uns?
..
Oder gibt es vielleicht zwei Arten von Menschen, die Messenden und die Kämpfenden?“

Am Montag, nach einer Nacht voller Schlaf, und dem Traum mit dem Garten, mit dem Gärtner der mir dir guten und die schlechten Wurzeln zeigt, dann Frühstück im Freien. Und dann wieder, das Gefühl dass wir am falschen Platz sind. Also gut, denke ich, und mache mich auf den Weg zur Rezeption, um nach einem anderen Zimmer zu fragen. Die Frau dort knobelt 5 Minuten in Listen. „Morgen wird etwas frei,“ sagt sie, „Baco Uno wäre das.“ Von Villa Rio zu Villa Baco, denke ich, und mache mich mit skeptischer Hoffnung auf den Weg zu Baco. Und lande – direkt vor dem Appartment mit dem Palmenloch im Dach. Das ist unseres, denke ich, und kläre an der Rezeption das wie und was des Umzugs. Würde am liebsten gleich die Sachen packen, auch wenn der Umzug mit unserem Gepäck ein kleinerer Akt ist. Warum hat das Appartment auch nicht gleich frei sein können, denke ich. Und versuche es dann als Erfahrung zu sehen. So fühlt man sich an einem Ort an dem man sich nicht wohl fühlt. Kommt ja immer mal wieder vor, und besser im Urlaub als daheim. Dann klappe ich mein kleines Reisetagebuch auf, blättere auf die erste Seite und lande – im Januar 2005. Bei der Reise nach Florida, die an einem Sonntag hätte anfangen sollen, die aber durch einen Schneesturm in Atlanta mit einem Tag Verspätung anfing. Und zu der Efrat eine israelische Weisheit schickte, als sie von der Verzögerung hörte: „Every delay is for the best.“

Keine Zeit ist verloren, fällt mir dabei wieder ein. Und es war ja nicht einmal etwas negatives passiert. Es war nur meine eigene Erwartung an das Hier und Jetzt, die enttäuscht worden war. Als wir das erste Mal hier waren, wussten wir noch nicht einmal etwas von den Appartments. Und hatten ein normales Zimmer. Und waren glücklich darin. Doch dann sahen wir irgendwann die Appartments, und dachten, „das wäre ja schön“. Und hatten dann beim nächsten Urlaub eines mit Blick zum Pool. Und beim Urlaub darauf eines an einem Teich. Mit Fröschen, und mit fließendem Wasser. Und das wurde dann zum Standard. Wie auch das Urlaub machen selbst.

„Das alles gabe es vor ein paar Jahrzehnten noch nicht einmal,“ sagte ich beim Strandspaziergang. Und stolperte dann ein paar Schritte weiter über ein kleines quadratisches Objekt, das sich als Kerze entpuppte. Mit Docht, der noch weiß war. Wo kam die nun her? Vom Meer, angespült von dem Gedanken an Räucherstäbchen?

„Die ist für Baco Uno,“ sagte ich, und steckte sie ein. Nur noch ein Tag, dann würden wir dort sein. Und bis dahin sollte ich vielleicht einfach im Jetzt bleiben, das sich „Ceres Quatro“ nannte.

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Ein paar Tage später beginnt dann in Baco Uno der Tag mit der Zeit, der Loreley und mit ihr verknüpfte Gedanken zur Dichtung und zur List der Übertragung:

"Das Märchen ergreift ihn, weil es ein Stück intimes Wissen, das im Dunkel einer Vergessenheit gelegen hat, zurück ins Bewusstsein rückt. Am Gipfel des Berges, auf dr Horizontlinie zwischen Land und Himmel, funkelt die Abendsonne. Als letzter Sonnenstrahl erhält dieses Aufleuchten seine besondere Wirksamkeit dadurch, dass wir sein Erlöschen ahnen und somit auch die Flüchtigkeit aller irdischen Beleuchtung.
..
Der Schiffer mag am Felsriff zerschellen, weil er gänzlich im wilden Weh des Stimmungstaumels aufgeht. Der Dichter hingegen umschifft erfolgreich die Gefahr, die das alte Märchen ihm in den Weg legt. Er erliegt seiner Melancholie nicht, weil er aus eigener Kraft als dessen Quelle eine mythische Sängerin heraufbeschwören kann."

Die Poesie, die aus eigener Kraft geschöpft wird, die einen um die Klippen des Lebens zu tragen vermag. Als Parallelstück dazu, ein paar Seiten und Zeiten früher, ein Gedicht von Menantes, an das ich dann beim Spaziergang am Strand wieder dachte:

"Dieses Weltmeer zu ergründen
Ist Gefahr und Eitelkeit
In sich selber muß man finden
Perlen der Zufriedenheit"


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Daheim dann ein Buch, das ich eigentlich schon alleine wegen des Titels mit ans Meer hätte nehmen sollen. "Im Schatten der Wellen" heißt es, von Brigitte Giraud geschrieben. Als ich es in der Bücherei aufgechlagen habe, wusste ich mit einem Satz dass ich es mitnehmen würde: eine der Figuren im Buch heißt wie ich, nur mit Accent, und mit dem Dreher, dass sie im Buch die jüngere Schwester ist, während ich in Wirklichkeit die ältere bin: Dorothée.

Und so ist die Stelle, die ich vom Buch behalten möchte, auch eine Stelle über das Schwimmen lernen, mit ihr, mit mir:

"Sie waren willens, ihr Bestes zu geben. Doch Vincent war nicht sehr geduldig, und Dorothée nicht sehr mutig. Die beiden Kinder bemühten sich eine Zeitlang, doch nach einigen Versuchen gaben sie auf. Dorothée wollte erst am nächsten Tag weitermachen. Vincent war sichtlich enttäuscht und warf ihr vor, keine gute Schülerin zu sein. Vincent mochte es nicht, wenn man sich ihm widersetzte. Dorothée mochte es nicht, wenn man sie zu etwas zwang. Diese beiden hatten sich gesucht und gefunden, stellten sich gegenseitig auf die Probe."

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Tuesday, April 11, 2006

Q wie Quadrat, V wie Vendetta



Die Magie des Realen - ist eine Ausschreibung der KSK Kirchheim. Und Anlass für einen Aprilausflug, um einen Wintermorgen auf der Ostalb in die Alleenstrasse 160 zu eskortieren. Dabei bietet sich beim Anstehen einerseits ein überraschender Ausblick auf die verschneite Teck (Mount Fuji, such a lonely mountain), und andererseits Anblicke der zur gleichen Zeit wartenden Bilder und BildnerInnen. Das Ungesagte, Nummer 213, länglich in grün-schwarz, rahmenlos. Segmente, Nummer 214, in Form zweier Quadrate, in Metall gefasst. Dazu, die Erläuterung der Realmagie in kleingedruckten Zeilen.

Die Einsicht, dass das Reale eine rationale und eine irrationale Seite hat, aus deren Durchmischung oder Zusammenprall die Magie entsteht, etwa die der Liebe oder die des Todes. Einen Hinweis verdient auch die Magie des Schauens, Fühlens und Denkens, die sich im Urbanen ebenso vollziehen kann wie in der Natur.
- KSK Kirchheim


Vom Urbanen zur Natur, das entsprach auch der weiteren Ausflugs-Route: von Kirchheim nach Waldenbuch. Nicht über den schnellsten Weg, auch nicht über den direktesten Weg, sondern über Nebenstrecken die zunehmend quer zu den Hauptverkehrsflüssen liefen, um dann in das Aichtal einzubiegen. Dort, Wald in rot, und grün. Und dann - die Aich, in tiefem kakaobraun, und mit doppeltem Bachlauf, der sich dann weiter oben in mäandernde Wasserschlingen legt. Die Straße dazu, gerade und gleichzeitig beschwingt.

Dann Waldenbuch, Sitz der offiziellen Schokoladenverwaltung, und neuerdings mit Museum Ritter. Ein Rotes Schild deutet den Weg: SQUARE erklärt es, und square ist auch das angezeigte Gebäude, die aufklebbare Eintrittskarte und die ausgestellten Exponate. Etwas ungewohnt, die Atmosphäre, zwischen Schokoshop und Shoppingbusgruppen, aber dann doch: Museum. Mit Foyer, Begleitprogramm und Audioguide. Mit rechteckigem Flur, der zum ersten Quadranten der Ausstellung führt: Ein Raum zum Kontaktaufnehmen mit dem Quadrat und dem Ausstellungskonzept.

Die Vielfalt malerischer und plastischer Konzepte zum Quadrat, seine anhaltende Lebendigkeit als Form und die spannenden Verbindungslinien, die sich quer durch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts ziehen lassen... ein nicht enden wollender Strom von Kunstwerken, die sich ernsthaft, spielerisch, mathematisch, spirituell, analytisch und witzig mit dem „Viereck mit vier rechten Winkeln“ (Duden) beschäftigen.
- Museum Ritter

Im ersten Stock dann das Eintauchen in die Quadratur: Hommage to the Square. Von Josef Albers, in gelb, weiß und grau. Anfang von 2 Quadraten. Von El Lissitzky, in gelb, rot und blau. Blaues Quadrat. Von Carl Buchheister, in blau, grau und weiß. Dazu, französiches Stimmengewirr im Hintergrund. Keine Installation, sondern Schüler und Schülerinnen auf Ausflug. Eine junge Französin setzt sich auf die schwarze Bank, mit Blick auf die Bilder. Ihr Haare, schwarz mit roten Strähnen. Ihre Strümpfe, geziert von gekreuzten Knochen. Ein junger Mann setzt sich dazu, auf die andere Seite. Für einen Moment schauen sie die Quadrate an, während sie selbst ein Bild bieten. Dann öffnet sich eine Aufzugstür, jemand ruft etwas, die Frau dreht sich, die Szene löst sich auf.

Die Quadrate bleiben.

Später dann, daheim, Lichtstrahlen, die über ein Dach laufen, und durch ein Fenster fallen. Warum werden die meisten Häuser eigentlich eckig gebaut? Und noch eine andere Frage, zur Kunstkritik, gestellt und nicht unbeantwortet im Anhang an V für Vendetta, von allen Orten.

"Woher kriegen Sie Ihre Ideen her?"
"... das ist im trostlosen und verwirrenden Bodensatz der Meinungen und Halbwahrheiten, der die gesamte Kunsttheorie und -kritik ausmacht, die einzige Frage, die es Wert ist, gestellt zu werden. Doch wir kennen die Antwort darauf nicht und haben Angst, dass das jemand herausfinden wird."
- Alan Moore.

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Sunday, March 26, 2006

Das Wesen der Bäume



Sonntag morgen. Literarisches Cafe in Köngen. Auf dem Weg, die Bäume, die ich letzte Woche besucht haben. Die Bäume, in denen die Graureiher jetzt nesten. Sie waren schon seit Jahren da. Keine 3 Minuten von der Kreuzung am Ortseingang. Seltsam, wie lange man machmal für solche Wege benötigt.

Dann das Cafe. Wie eine Lichtung in Zeit und Raum. Hier könnte auch 1996 sein. Oder 1986. Der Boden, Holz. An den Wänden, Aquarelle, fließende Bäume, in denen sich durch die Fenster echte Äste des Gartens spiegeln. Und dann, Zeilen zum Wesen derBäume, ebenso fließend und sich spiegelnd, in den verschiedensten Stimmen. Hermann Hesse und Hannes Wader. Beatrice Fabricius und Hilde Dorin. Rainer Maria Rilke und Ingeborg Bachmann. Zusammen ergeben sie eine Lichtung im Wald der Blätter:

Bäume haben
Lange Gedanken
Mit jedem Jahr bauen sie
Ihre Gestalt aus

Leben einzeln und frei
Und dabei
Brüderlich wie der Wald
Der Gedanke ist alt

Er gehört zum Herbst
Der milde führt
Vom Tun zum Sein

Dann weiter zum Reigen,
Zum Schweigen
In der rosa und weißen Sprache
Der Frühlingsknospen.

Man müsste weggehen können
Dann zöge die Landschaft vorbei
Die Felder und Wälder
Straßen und Orte

Und dort,
am Ende der Ebenen

Hinter der Welt
Wird ein Baum stehen.

- Hesse /Wader / Fabricius / Dorin / Bachmann

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(nachgetragen am 13.4.
auch seltsam, wie lange man manchmal für Zeilen braucht.
und dann, eines Tages, wenn man denkt das wird nichts mehr
finden sie sich auf dem Weg mit den Weidenkätzchen)

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und ein weiterer Nachtrag, 2 Jahre später, Zeilen aus einem Brief:


Mich hat damals beim Thema Bäume auch ein anderes Gedicht beeindruckt.
Ich weiss nicht, ob Du Dich erinnerst, es ist von Johann.
- M.


Wachsen

Und irgendwo im Garten hinten denkt ein alter Baum, da vorn der Mensch, der stille alte Mensch, er ließ mir meine Würde, meinen Raum zum Traum, er zog mich nicht in seine kleine Welt.

Und blieb er aus im Frühling lang, der warme Regen, er sah oft her, doch bracht kein Wasser er, ließ meine Blätter, meine Wurzeln meine Dinge regeln, ich wurde ich und so für ihn viel mehr.
Und nach dem Sturm ließ er mich meine wunden leben, er teilte nur mit mir den gleichen reichen Wind.

Sein eignes Leben gut zu leben war für ihn genug an Streben, er ahnte, dass der Bäume Träume keine Menschenträume sind.