Wednesday, August 16, 2006

Ausstieg / Einstieg



Dienstag mittag, kurz vor Vier. Ausstieg aus dem Web und Einstieg ins Auto. Zusammen mit neuer Musik. Gabriel Gordon. Overwhelmed. Überraschend jazzig. Im Kleingedruckten, die Anmerkung: 'Energy Music', als Copynote gedacht, aber auch als Kurzcharakteristik treffend. Genaus wie der Titel des elften Songs, hier, unterwegs zwischen Orten: 'Be Free'. Was mich daran denken lässt, dass Autobahnen im amerikanischen Freeway heißen.

Auf der B27 dann weitere frei schwebende Gedankenstücke, aus dem Europabuch von Paula Fox. Der Kälteste Winter. Nicht gerade ganz passend zur Jahreszeit, aber immerhin gab es diesen August auch hier schon Nebel, allerdings ohne Girlande:

Nach dem Varieté ging ich zum Red Lion Square, ich weiß nicht mehr, warum. Dichter Nebel lag auf dem Platz, und die roten Lichter eines Pubs hingen wie eine Girlande darin. Musik aus einem Radio trieb vorüber. Ich war am Mittelpunkt der Welt. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt. Dann fragte ich mich, ob irgendeinem Menschen der Ort, an dem er sich befindet, nicht wie der Mittelpunkt erscheinen mochte.
Am nächsten Nachmittag nahm ich das Flugzeug nach Prag.

Statt Flugzeug gibt es für mich die Ausfahrt Kunsthalle im Philosophenweg. Franz Gertsch wartet dort. Und eine Überraschung: ein Literaturcafe. Ich drehe mich am Eingang im Kreis, vom Blick nach Tübingen geht der Blick in die Halle, zu Bildern die so groß sind, dass man sie vom Eingang aus betrachten kann. Monate malt Gertsch an einem Bild. An den Strukturen von Wasser und Stein. Von Augen und Haaren. Von Hintergrund und Vordergrund.

Warum das Überformat, frage ich mich als ich dann direkt vor den Bildern stehe, vor Medici und Saintes Maries de la Mer, vor Luciano und Patti Smith, vor Verena und Nadja.

Bei den Gräsern fällt mir ein Zitat vom Lyrik-Rundgang auf dem Tachenhäuser Hof ein.

Wenn wir fähig wären, nur eine einzige Blume in ihrem ganzen Wesen zu sehen, würde das unser Leben verändern.

Vielleicht ist es das, denke ich, und greife nach dem Japan-Papier, das neben dem Wasser-Triptychon liegt, zum Anfassen. Vielleicht auch deshalb Japan, werde ich später denken, bei der Suche nach dem Zitat mit der Blume. Eine Suche, die mich direkt zu einer Zen-Geschichte in Wikipedia bringt.

Der Legende nach soll der historische Buddha Shakyamuni seiner Schülerschar einst eine Blume gezeigt haben, die er zwischen seinen Fingern drehte. Nur sein Schüler Mahakashyapa verstand diese Geste unmittelbar als zentralen Punkt der Lehre Buddhas und lächelte.

Von Buddha leitet mich die Suche dann weiter zu einem der wenigen wörtlichen Zitate von Gertsch im Netz, direkt verknüpft mit einer Erläuterung, in einem Artikel über "Den Magier des realen Bildes":

Wir haben im Tessin Ferien gemacht. An einem Tag habe ich mich freigemacht und den Monte Lema erstiegen. Und auf diesem Berg habe ich gesagt: "Jetzt hab ichs," zitiert AFK aus einem 1994/95 publizierten Interview des Künstlers. Gemeint ist die Erkenntnis Gertschs, dass er nicht einen Stil suchen, sondern lediglich festhalten müsse, was sich ihm (via Kamera) zeige. Das war 1969 und zugleich der Beginn der diapositiv-unterstützten Malerei.

Der Ausstieg aus der Ausstellung fällt leicht - bildet er doch den Einstieg ins Literaturcafe. Dort gibt es, fast wie zur Ausstellung ausgewählt, japanischen grünen Tee in großen weißen Tassen. Dazu eine ganz andere Einsicht, die aber zumindest am Anfang von einem ähnlichen Hochgefühl begleitet wird. Großansichten vom Nachmittagsfernsehen, beschrieben im neuen Buch von Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus.

Es war kein Zufall, dass dort stundenlang Menschen redeten, die keinen vollständigen Satz formulieren konnten. Wenn das Ganze auf den ersten Blick keinen Sinn ergab, dann mußte es doch wenigstens in irgendeinem größeren Zusammenhang stehen. Warum sonst sollte man so etwas im Fernsehen zeigen, im offiziellen Fernsehen, dachte Herr Jensen.
Daher hatte er sich vorgenommen, sein Talent dazu einsezusetzen, der Lösung des Problems auf die Spur zu komme, den Sinn zu ergründen. Es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass er das Ganze verstehen konnte, wenn er nur lange genug darüber nachdachte. Ausreichend Zeit hatte er ja. Vielleicht war das die Aufgabe, auf die er so lange gewartet hatte.

Und so widmet er sich der Aufgabe. Nimmt Sendung über Sendung auf. Sucht nach den Mustern, die erst im größeren Zusammenhang oder mit größerem Abstand erkennbar werden. Wie die Vorhangmuster in den Gertsch-Bildern, die eine weitere Bedeutung daher erhalten, dass sie in einem zweiten Bild auftauchen. Und, stelle ich überrascht fest, als Variante auf dem Buchcover. Es ist alles verknüpft, scheint es. Und die Antwort? Könnte unsere angenommenen Muster zerschneiden. Vielleicht stellen wir daher manchmal lieber die Suche ein. Bleiben bei den Strukturen, die wir kennen, die uns geläufig sind. Bei den kleinen Sachen, die Zeit machen. Die den Raum auf die gewohnte Art füllen. Die uns vor der möglichen Folge bewahren, die Herr Jensen trifft:

Herr Jensen seufzte erschöpft. Seine Arbeit hatte ihm die Augen geöffnet und war dennoch vollkommen sinnlos gewesen.

Und dann steigt er aus. Aus den ganzen Mustern des Lebens. Und ich steige ein, in mein Auto, und fahre auf dem gleichen Weg nach Hause, auf dem ich auch hergefahren bin, und der doch vollkommen anders aussieht in der anderen Richtung.

Später am Abend dann, Sterne. Und die letzte Seite des Paula Fox Buches. Die mit einem kleinen Satz über die großen Dinge aufwartet, als Nachgedanke zu einem Blick bei einem Observatorium, und auch zu dem Tag.

Es kam mir vor, als wäre ich auf einer Schaukel durchs Weltall geschwungen, deren Seile sich aus den unvorstellbaren Tiefen ringsum erstreckten. Auf der Fahrt zurück nach Sleepy Hollow sagten die Jungen kein Wort. Ich hörte jemanden seufzen.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich ihr Schweigen begriff. Zuerst hatte ich mir vorgestellt, dass sie Dinge gesehen hatten, die größer waren als sie selbst, die ihnen eine neue Sicht auf ihr Leben, auf alles Leben gewährten. Aber inzwischen glaube ich, sie waren still, weil sie im Observatorium der Columbia University zum ersten Mal etwas anderes als sich selbst gesehen hatten.

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Tuesday, August 01, 2006

Ithaka



Gedankenreisen an einem Sonntagmorgen in Köngen. Dort, zwischen Büchern, ist es nur ein Schritt von Homers Odyssee, deren Ziel eine Insel namens Ithaka ist, und damit die Heimat, zu Kubricks Odyssee, deren Ziel - und das fällt mir jetzt erst im Nachhinein auf - sich am dazu gegengesetzten Pol befindet, in der unendlichen Ferne, jenseits der Erde, jenseits des Alls.

Wo waren wir? Oder bessergefragt: Wohin gehen wir?
Auch dazu, zwei Antworten: Immer nach Hause. Oder, etwas geometrischer gesehen: Das Wohin ist unwesentlich. Die Erde ist rund.

Was offensichtlich einer der auslösenden Faktoren für Weltreisen ist: dieser Gedanke, dass sich, auch wenn man sich immer weiter in eine bestimmte Richtung bewegt, und sogar: besonders wenn man dies tut, aus der Bewegung entlang einer Linie im wirklichen Raum eine Kreisbewegung entsteht. Und daraus dann, früher oder später, Bücher mit dem Titel „In 80 Tagen um die Welt“ oder, etwas neuzeitlicher: „87 Tage blau – Logbuch einer Erdumrundung“:

1. Tag
Auslaufen Rotterdam
Ich habe mir ein Schiff gefunden, dessen Reeder glaubhaft versichert, es werde so lange gen Westen fahren, bis es aus dem Osten wiederkommt. Und dieses Schiff wird mich mitnehmen, für drei Monate. Als sogenannten S.N., als supernumerary. Der Überzählige bin ich, der Überflüssige, der unnütze Passagier. Ich darf fast alles, muss fast nichts und werde infolgedessen nur bedingt ernst genommen. Das ist in Ordnung. Ich will ja nur einmal, einmal herum kommen um diese Erde, einmal ans Ende gelangen. Dabei mich herausfallen lassen aus der Zeit und sehen, ob mich etwas auffängt.

- Peter Schanz

Dieses Gefühl, sich aus der Zeit herausfallen zu lassen. Es begegnet mir am gleichen Tag an unerwarteter Stelle wieder: in Liebesleben, dem eigensinnigen Buch von Zeruya Shalev. Dort entscheidet sich eine Frau dafür, nicht auf die Reise zu gehen, und kommt dadurch genau zu diesem Punkt.

Woran dachte er, dieser Mann allein im Café über dem Friedhof, was ging in seinem Kopf vor, wofür lebte er eigentlich, was hatte er von seinem Leben, was hatten alle von ihrem Leben, das schien mir ein immer größeres Geheimnis zu sein. Was hatte mich gehalten, bevor ich ihn traf, plötzlich wußte ich das nicht mehr, die Tage kamen mir im nachhinein leer und langweilig vor, wie unbeschriebene Blätter, von denen eines aussah wie das andere, noch viel beängstigender als meine Tage jetzt, vielleicht ging es mir nicht darum, ihn zu bekommen, sondern ihn loszuwerden, ihn und durch ihn auch mich, uns alle, nicht, daß mir klar gewesen wäre, wen ich damit meinte, aber ich hatte angefangen, im Plural zu denken, als wäre ich dann nicht mehr so allein mit meinem überflüssigen Auftrag, sondern die autorisierte Vertreterin einer ständig wachsenden Anzahl von Personen, eine Vertreterin, die ihr Leben im Bett des Verdächtigen aufs Spiel setzte, um Wissen zu sammeln, das Licht auf etwas werfen konnte, von dem ich nicht wußte, was es war, aber wenn man es das Geheimnis des Lebens nannte, mußte das nicht falsch sein.

Und parallel zum Zeilen schreiben, gerade Marc Cohn, Would you walk through this world with me. Ohne die Frage, wohin.

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