Friday, December 01, 2006

Verknüpfungen



Das Leben ist eine Kette von Ereignissen, deren Muster und Verknüpfungen so komplex sind, dass man sie nicht erkennt, während man in ihnen versponnen ist. Erst mit Abstand werden die Strukturen deutlich. Das ist einer der Gründe, an einen anderen Ort zu gehen, für eine gewisse Zeit. Tapetenwechsel, ist der umgangssprachliche Begriff dafür. Der treffend genau auf diese Strukturen abziehlt, die an anderen Orten andere Farben haben.

Gut ist es auch, das richtige Buch für den anderen Ort mit im Gepäck zu haben. Vorzugsweise läuft es einem von alleine über den Weg, sieht man es in dem Regal der Bücherei, in dem man etwas ganz anderes gesucht hat, bekommt man es geliehen.

So traf ich die Feuerfrau. Sie begleitete mich zu den Vulkanen nach Lanzarote, und sagte mir dort genau das, in anderen Worten.

Wer frühere Ereignisse zusammenbringt, lernt sich selber kennen. Aber viele Menschen bewahren die Erinnerungen nicht im Gedächtnis bis sie einen Sinn ergeben. Sie wissen nicht einmal, dass sie es können. Dass auch das Licht mancher Sterne uns erst dann erreicht, wenn sie längst erloschen sind.

Die Konsequenz daraus hatte sie mir davor schon erläutert.

Man kann die Welt nicht sehen, ohne sich selbst zu sehen.

Es war dieser Satz, der hängen blieb, der eine Schlaufe bildete, durch den sich dann einen Tag später der nächste Gedanke zog. Dieser hatte eine Jahr daheim darauf gewartet, gelesen und gedacht zu werden. Doch es brauchte offensichtlich diese Reise, um ihm den richtigen Raum zu geben, und welcher Ort könnte passender für Zeit- und Gedankreisen sein als eine Insel.

"Bildung – Alles was man wissen muß", heißt das Buch, das von Griechenland über Rom durch das Mittelalter in die Neuzeit, und von Dante über Goethe und Shakespeare bis zu James Joyce führt, das mich erst in die griechische Götterwelt beförderte, und von dort direkt in die Arme von Sokrates, Platon und Aristoteles. Und zu dem philosophischen Gleichnis, das wie ein Gegenstück zu der Zeile oben scheint, und genauso wie die Feuerfrau mit einer Flamme verbunden ist – das Höhlengleichnis Platons:

Das Reich der Erscheinungen ist eine Höhle, in der wir mit dem Rücken zu einem flackernden Feuer sitzen, während zwischen uns und dem Feuer wirkliche Gestalten vorbeiziehen. Wir aber sehen nur ihre schwankenden Schatten auf der Wand. Sie sind unsere Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit. Dort auf der Insel schien sie vor allem dann real, wenn man mit dem Raum alleine war. Am Ende des Strandes, bei den Wellen, oder in den langgezogenen Kurven der Straßen, wenn man nur das schwarz des Vulkangesteins und das blau des Himmels und des Meeres sieht.

Dort, am Ende des Strandes, bahnte sich dann schon die nächste Verknüpfung an, ohne dass ich diese als solche hätte erkennen können. Eine Frau ging vorbei, in Jeans und Shirt. Das Shirt stammte von einem anderen Ort, es trug den Namen: Jordan. Petra. Ein Ort, an dem ich noch nie war, den ich aber durch I. kenne. Von ihr erhielt ich dann 3 Tage nach dem Ende der Inselzeit eine Seite aus der Zeit. Mit einem Bild von Petra. Aufgenommen 1994 von Annie Leibovitz. Auf dem Bild ist auch eine kleine Figur zu sehen, die dort zwischen den Steinmauern steht. Susan Sontag. Oder: das Bild eines Menschen, stehend zwischen dem Dunkel und dem Licht. Das Bild eines Menschen, der zu dem Zeitpunkt noch 10 Jahre zu leben hatte.

Der Tod ist wie ein Riss im Gewebe der Tage. Durch den Riss verschwindet jemand, durch ihn können die Lebenden etwas erkennen. Was? Vielleicht sich selber. Wer ist man, angesichts dieses Risses? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Oder keine.

Dem Riss. Man ist ihm auch näher in der Ferne. Genauso wie den Antworten. Vielleicht ist das der Grund, dass so viele Geschichten und Bilder auf Reisen entstehen, an den Orten jenseits unseres gewohnten Seins.

~~~

No comments: