Friday, January 12, 2007

Im Lauf der Zeit



Ich hatte das Buch in Lanzarote dabei. Muscheln in meiner Hand. Von Anne Morrow Lindbergh. Oder bessergesagt: Nicht das Buch, nur eine Seite daraus. Die Seite über das Muschelsammeln. Die Seite darüber, dass man nicht alle Muscheln sammeln kann. Nur ein paar. Und die sind umso schöner dadurch.

Gestern Abend habe ich eine andere Seite des Buches aufgeschlagen. Die Seite über die Mondmuschel, über die Fliehkräfte, über unsere Zeit, die immer mehr zersplittert, in der sich unsere innere Ruhe immer mehr auflöst.

Statt das Zentrum, die Achse des Rades, zum Stillstand zu bringen, fügen wir unserem Leben noch mehr zentrifugale Kräfte hinzu. Da wir nicht wissen, wie wir die Seele nähren sollen, versuchen wir, ihr Verlangen durch Zerstreuung zu beschwichtigen.
Alleinsein, sagt die Mondmuschel. Nach innen horchen. Den Mittelpunkt finden.
Fast keiner tut es. In Wirklichkeit ist es heute etwas Revolutionäres, denn jede Tendenz, jeder Druck und jede Stimme der Außenwelt sind gegen diese Art der Verinnerlichung gerichtet.

Geschrieben hat Anne Morrow diese Zeilen 1955. Was sie wohl zu unserer heutigen Zeit sagen würde? Vielleicht das, was Christian Schüle im Dossier der Zeit sagt. In dem sich ein Satz findet, der auch im Muschelbuch hätte stehen können:

In der Natur gibt es keine Langeweile. Langeweile ist eine Erfindung der Beschleunigungsgesellschaft, deren Mitglieder fürchten, zu sich selbst kommen zu müssen und Leere zu finden.

Den Artikel, die Zeit hatte ich nicht selbst gekauft. I. hat ihn gelesen, ihn ausgeschnitten, mit einer Zeile zur Nutzung von Lesestoff im Lauf der Zeit versehen ("Jedes Quartal wieder lesen - immer was Neues entdecken"), und an mich weitergegeben, im Tausch mit Hesses Kleine Freuden. Was sie mir dabei nicht verriet: das Dossier enthielt im letzten Absatz genau jenes Zitat eines Zenmeister, nach dem wir die Woche davor am Telefon gesucht haben.

Statt zu sagen: ‚Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas’, sollten wir das Gegenteil fordern: ‚Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.’“
- Thich Nhat Hanh

Und als ob die Zeit sich eine Extraminute genommen hätte, um genau an dem Tag noch einen weiteren Aspekt von sich zu erzählen, zappe ich dann abends in genau jene Szene einer romantischen Komödie, in der es weder um Romantik noch um Komödie geht, sondern um die Zeit, die man bei einem Flug in einem Privatjet sparen kann, wie der Besitzer des Jets der Frau erläutert, die er aus gänzlich unromantischen Gründen auf den Flug mitnahm.

„Schauen sie denn nicht aus dem Fenster?“ fragt die Frau.
„Nein, ich lese während des Flugs die Zeitung,“ sagt der Mann. „So spare ich Zeit.“
Die Frau sieht den Mann an. Dann sieht sie zum Fenster, und wieder zu ihm.
„Sie sparen die Zeit nicht,“ sagt sie dann.


Momo, denke ich. Die grauen Männer. Und: die immerwährende Sehnsucht nach mehr Zeit. Als ob ein Mehr an Zeit die Lösung sein würde. Als ob nicht die ganzen letzten Jahrhunderte voller Erfindungen waren, die vermeintlich dazu führen, mehr Zeit zu haben.

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Saturday, January 06, 2007

A wie Alphabet



2007. Ein neues Jahr. Das mit neuen Farben beginnt: junigelben Saunatüchern und zitronengrasgrünen Filztaschen. Dazu: neue Bücher. Aus der Bücherei. Ungeplant findet sich dort auch einer der Pläne für das neue Jahr. Reduzieren und dabei intensivieren. Nicht im Überfluss verloren gehen. In der Bücherei übersetzt sich das in einen einzigen Buchstaben. Bessergesagt: in einen einzigen Buchstaben für jeden Besuch. Also für den Start: A.

A wie Auswahl. A wie Alphabet. A wie Autor.

A wie Anna Achmatova. A wie Tschingis Aitmatov. A wie Jean Améry. A wie Rose Ausländer. A wie Jane Austen. A wie Paul Auster. So viele Autoren, die unter A stehen, so viele Autoren, von denen ich schon gehört habe, von denen ich aber noch nichts gelesen habe.

Parallel dazu, Überlegungen zur Zeit, zur Bewegung und zur Stille. Darüber gibt es einen Artikel in der Zeit, sagt I. Den bringe ich dir mit, in die Sauna. Zeit, male ich auf die Zeit-Seite des Tages, die sich Kalenderblatt nennt. Da war doch was, fällt mir dabei ein. Und finde es - in maigrün. Hesses 'Kleine Freuden'. Gelesen vor einem Jahr, in eben jener Sauna. Und zitiert in den ersten Januarzeilen des letzten Jahres: grüne Notizen, blaue Grenzen.

Leider aber hat sich diese Hast des modernen Lebens längst auch unserer Art zu genießen bemächtigt. 'Möglichst viel und schnell' ist die Losung. Daraus folgt immer mehr Vergnügen und immer weniger Freude. So wenig als andere weiß ich ein Universalrezept gegen diese Mißstände. Ich möchte nur ein altes, leider ganz unmodernes Privatmittel in Erinnerung bringen: Mäßiger Genuss ist doppelter Genuss. Und: Überseht doch die kleinen Freuden nicht!

Am Abend blättere ich das erste A auf. A wie Rose Ausländer. Deren Namen kein Kunstname ist, sondern vom Leben geschrieben wurde. Geboren am 11. Mai 1901 in der Ukraine. Gestorben am 2. Januar 1988 in Düsseldorf. Dazwischen, eine Flucht, ein Leben Übersee, eine Reise zurück. Dazwischen, Worte.

Noch ist Raum
für ein Gedicht

Noch ist das Gedicht
ein Raum

wo man atmen kann.

Der Name des Gedichtbandes, den ich mitnahm, ein Gedicht in sich: "Ich höre das Herz des Oleanders". Der Titel bringt mich zurück nach Lanzarote. Zu den Herzen der schwarzen Steine, die nur einmal schlagen, wie eine Insel. Zu dem Versuch, Sprache zu übersetzen. Im Netz finde ich einen englischen Artikel über Rose Ausländer, über ihr Schreiben in Englisch. Dressed in a Naked Question Mark. Und in dem zweiten Buch, dass ich von ihr mitnahm, ein Buch nicht von ihr, sondern über sie - auch das Teil der Idee zu Intensivieren - finde ich Gedanken zum Schreiben. Von Rose.

Ich verhalte mich oft skeptisch, will mich der Diktatur der Worte nicht unterwerfen, werfe sie in den Wind. Sind sie stärker als er, kommen sie zu mir zurück, rütteln und quälen mich, bis ich nachgebe. So, jetzt lasst mich in Frieden. Aber Wörter sind keine beliebigen Figuren, mit denen man nach Belieben verfahren kann. Ich hätte sie mißverstanden, behaupten sie, sie hätten es anders gemeint. Sie seien nicht an der richtigen Stelle untergebracht, murren sie. Scheinheilige, die friedfertig und unbewegt auf der weißen Fläche stehen. Das ist Täuschung. Hart sind die, auch die zartesten. Sie zwingen mich, sie hin- und herzuschieben, bis sie glauben, den ihnen gebührenden Platz eingenommen zu haben.

Und daneben, Gedanken von Sartre, der eigentlich noch gute 18 Buchstaben entfernt ist.

Der unfreiwillige Beitrag des Schriftstellers ist immer das Wichtigste. Ein Werk ist immer nur dann schön, wenn es seinem Autor irgendwie entgleitet.

Gedankenverloren gehe ich durch die Räume. Suche nach den Buchstaben, nach den Anfängen in meinen eigenen Büchern. Finde A wie Tariq Ali im Schatten des Granatapfelbaums. A wie Anonymus mit aller Macht. A wie Isabel Allende, gleich mehrfach, im Geisterhaus, bei Paula, im unendlichen Plan. A wie Mitch Albom mit seinen fünf Menschen, die wir im Himmel treffen. A wie Joan Aiken und ihre Schattengäste. A wie Monica Ali in Brick Lane.

Und auch, das wusste ich: A wie Paul Auster in Timbuktu und mit Leviathan. Und, das wusste ich nicht mehr: A wie Tschingis Aitmatov's Kassandramal.

A wie Anfangen. A wie all die Dinge, deren Erinnerung uns abhanden gekommen ist.

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