Tuesday, October 30, 2007

Gefährliches, zweifelhaftes Zeug



Manchmal ist Pech auch Glück. Und bringt unerwartete Bücher und Balkone mit sich. Eigentlich war ich ja nicht wirklich so begeistert von der Idee, nach 7 Tagen in Kreta das Hotel wechseln zu müssen, weil es leider etwas früher zumacht als geplant. Aber so bekomme ich immerhin noch eine zweite Ecke von Kreta zu sehen, sagte ich mir. Bin dann mittags extra noch mal zur Rezeption, um nach der Servicenummer der Reiseagentur zu schauen, die immerhin den Transfer organisiert. Und lief direkt in ein Buch von Doris Lessing. Das jemand gerade bei der Abreise zurückgelassen hat. Das Cover: meerblau. Der Inhalt: zeitlos gut. Die Geschichte einer guten Terroristin. Eines Mädchens, das nicht liest.

Alice pflegte ihre Blockade. Sie konnte sich dafür entscheiden, die Welt der Bücher nicht zu betreten. Insgeheim genoss sie die Macht, ihre Eltern zu beunruhigen. Später fragte sie sich, wie es kam, daß ein Genosse mit einer guten, klaren und richtigen Weltanschauung bereit war, sie zu gefährden, in dem er all dieses gefährliche, zweifelhafte Zeug las. Alice blätterte vielleicht einmal hastig in so einem Buch und ließ es fallen. Wenn sie zuließ, daß ein Buch zum nächsten führte, würde sie sich vielleicht verirren und den rechten Weg nicht wieder finden.

Was Alice wohl zu diesem Ort hier sagen würde? Dem Balkon, der wie zum dasitzen und sich in Büchern verlieren und finden gemacht ist? Diesem Balkon, der eigentlich gar nicht geplant war – denn die Zimmer des Ersatzhotels haben offiziell leider keinen Meerblick. Jedenfalls die meisten nicht. Es gibt jedoch ein paar Zimmer in Bungalows, die entlang eines Weges über einer Steinbucht stehen. Und damit auch – Meerblick haben. Schade nur, dass ich nun die Nobelpreis-Seiten aus der Zeit nicht dabei habe. Aber immerhin taucht Lessing auch im Spiegel auf. Augenzwinkernd. Auf der Stufen ihrer Tür sitzend. Ungeschminkt.

Doris Lessing weicht dem Außen nie aus. Wie Simone de Beauvoir und George Orwell gehört sie zu jenen Schriftstellern, die Extremen der Geschichte unmittelbar begegnet sind und sich aus dieser erzwungenen Erfahrung nicht in eine Formenwelt der Absurdität oder Reduktion gerettet haben. Immer ihrer Botschaft verpflichtet, ist ihr Stil nicht ohne Humor, aber stets ans Gewissen gepflockt. Wenn man die Wahrheit schreibe, komme sie früher oder später heraus, spottete Oscar Wilde schon vor mehr als einem Jahrhundert über diese Art Seriosität.

Und jetzt?

So wie es im Moment aussieht, Balkonien. Mit dem Buch, das sich gestern hier im Buchregal zwischen Sidney Sheldon und Konsalik fand: James Robertson. The Testament of Gideon Mack. Auf dem Cover: schwarze Bäume. Pinke und blaue Blätter. Ein Priester und der Teufel. Gefährliches, zweifelhaftes Zeug.
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Sunday, October 28, 2007

Zeit Reisen



Manchmal liegen Dinge neben der Zeit. Machmal passt die Zeit genau zu den Dingen. Wie vorletzte Woche. Als die neue Zeit im Briefkasten lag, während ich anfing, den Koffer für Kreta zu packen. Und dachte, die Seiten, die werde ich wohl eher daheim lassen. Bis ich die Beilagen sah. Zeit Reisen. Und: Zeit Leben, diesmal als Magazin, das ein DeLillo Buch ist.

Zeit Reisen. Sie beginnen mit dem Taj Mahal in Mumbai. Mit einem Blick aufs Meer. Und mit Geschichten über Zeilen, die in Hotels ihre Form fanden. So kommt es, dass ich in Kreat mit Blick aufs Ägäische Meer über Borroughs im Le Relais Hotel in Paris lese. Wo er mit Ginsberg zusammen Texte zerschnipselte und neu zusammenfügte. CutUp. Und wo er neue Verknüpfungen von Zeit um Raum entwarf. 1960 war das.

Wir hatten die Zusage, dass wir evakuiert werden, aus der Zeit in den Raum.

Szenenwechsel. Oder eher: Zeitwechsel. Zu Don DeLillo, 2007. Der in dem Magazin, das ein Buch ist, auch ein Interview gibt. Über das Schreiben. Und über das Zusammenfügen.

Ich denke Satz für Satz, Stein auf Stein. Wie Hemingway gesagt hat, get black on white, setze schwarze Buchstaben auf weißes Papier, dann folgt ein Satz dem nächsten. Die Sätze bringen mir auf eine merkwürdige Art etwas über das Buch selbst bei. Ich begreife erst während des Schreibens, was ich wirklich sagen will.
Bei Falling Man habe ich zwei Drittel des Buchs innerhalb eines Jahres geschrieben, indem ich meinem Instinkt gefolgt bin. Dann habe ich die einzelnen Teile neu zusammengefügt, um eine innere Struktur zu schaffen, eine Balance, einen Rhythmus, damit bestimmte Elemente in einem sinnvollen Abstand immer wieder auftauchen können.

Hemingway. Er ist auch Teil der Zeit Reisen. Mit einem Satz über das Hotel Taube Schruns in Österreich. Zu dem er gegen Ende November fuhr, um beinahe bis Ostern zu bleiben. Ein paar Seiten weiter schließt sich dann der Kreis: mit einem Bericht über das lutherische Hospiz in Jerusalem. Ein Ort, der unerwarteterweise auch in dem Buch vorkommt, das ich für die Zeit in Kreta gekauft habe: The Cretan Runner. Von George Psychoundakis. Der darin von seinem Leben als Bote in der Zeit der deutschen Besatzung erzählt. Eine Geschichte wie aus einer anderen Welt, vor allem wenn man sie hier liest, an den Orten, von denen er erzählt. Eine Geschichte, die ebenfalls eine Reise beinhaltet: mit einem englischen Offizier kommt Psychoundakis nach Cairo. Bis zu seiner Rückreise nach Kreta sind es 4 Wochen. Genug Zeit, um eine Pilgerreise nach Jerusalem zu machen. Von Tel Aviv nimmt er den Bus. Und schreibt Zeilen, die auch vom Jetzt und Hier aus Kreta stammen könnten.

Aber hier gab es saubere, sonnengewaschene Luft, die tief in meine Seele sank, und ein Gefühl von wahrem Glück weckte.

All die Sonne. Gerade jetzt, als die Uhren zur Winterzeit zurück kehrten. So kurz vor November, getragen aus der Zeit in den Raum.

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Sunday, October 21, 2007

Ortsbestimmung



Es ist Oktober. Heute ist hier. Ein Hier mit Schnee, und mit Büchern, die nicht für mich sind. Obwohl das erste so gut anfängt. Behutsame Ortsbestimmung. Péter Nádas.

Seit ich in der Nähe dieses riesigen Wildbirnenbaums lebe, muß ich nicht mehr fort, wenn ich in die Ferne schauen oder in die Zeit zurückblicken will.
Die Zweige der Wildbirne sind voller kleiner, bauchiger Blätter, die glänzen und hart sind wie Rindsleder.

Vielleicht wenn der zweite Satz in die Ferne geschweift wäre? Ich bleibe nicht hängen. Und versuche es, wie ein Kind mit einer zu großen Tüte Süßigkeiten, mit dem nächsten Buch. Das auch so gut anfängt. wir sind lockvögel, baby. Elfriede Jelinek.

gebrauchsanweisung.:
sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. sie sollen die untertitel auswechseln, sie sollen hergehen & sich überhaupt zu VERÄNDERUNGEN ausserhalb der legalität hinreissen lassen.
dann wendet sich otto zu seinen begleitern um. seine augen funkeln seine gestalt strafft sich. und nun sagt er spöttisch bestimmen wir was getan wird. der lauf eines polizeikarabiners hopert über seine wamme am rückgrat, bleibt an den krapfengeschwülsten weiter unten hängen und GEHT LOS!

Und wenn es auch heute ohnehin nicht passen wird, blättere ich dennoch das dritte Buch auf. Auch das fängt gut an. Michel Houellebecq. Die Welt als Supermarkt.

Der Roman, von gleicher Gestalt wie der Mensch, sollte normalerweise alles von ihm enthalten können. Man glaubt beispielsweise zu Unrecht, dass die Menschen ein rein materielles Leben führen. Gewissermaßen parallel zu ihrem Leben stellen sie sich unentwegt Fragen, die man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks philosophisch nennen muss.


Ich schaue auf die Uhr. Zeit zum Koffer packen. Morgen ist Kreta. Ohne Schnee. Dafür mit Zeus. Und der Frage, ob ich Romane in der Bücherei in Zukunft vielleicht nicht nach ihrem ersten Satz, sondern einem zufälligen Satz aus der Mitte aussuchen sollte.

Noch ein Nachgedanke zur Ortsbestimmung - hier ist 255 Meter über NN. Eigentlich sollte es heute nur bis 400 Meter schneien. Genaugenommen, eigentlich gar nicht. Nur weiter östlich.

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Thursday, October 04, 2007

D steht für viele Dinge



Hesse, Heine und Haslinger warten. Ich bin bei G hängen geblieben. Oder eher: bei 2 Ges, die über Des schreiben. Das ganze ohne direkten Zusammenhang, und fast ohne dass ich es bemerkt hätte.

D steht für viele Dinge.

Der Satz kommt von John Dee, der eine Figur von Neil Gaiman ist. Und der Sandman-Geschichte entstammt, in der nebenbei auch Luzifer und Death in neuer Gestalt auftauchen.

Und dann, in der Zeit, André Gorz. und sein Brief an D.
Auch hier taucht der Tod auf. Und mit ihm, ein Gedanke, den ich auch schon hatte. Den Wunsch, dass keiner vor dem anderen sterben, dass keiner am Grab des anderen stehen müsse.

Es ist ein Wunsch, den einst, wie Ovid in seinen Metamorphosen erzählt, im mythischen Phrygien die Götter dem alten Paar Philemon und Baucis zum Dank für seine Gastfreundschaft erfüllten. Die beide Liebenden durften gleichzeitig sterben und, in Bäume verwandelt, fortan doch beieinander sein.

Erzählt Elisabeth von Thadden in der Zeit. Im Sandman lässt Neil Gaiman den König der Träume die Geschichte von einer anderen Sicht aus erzählen.

Meist sind sie nicht allzu erfreut, mich zu sehen, sagt Death. Sie fürchten sich vor den sonnenlosen Gefilden. Aber dein Reich betreten sie jede Nacht ohne Angst.
Dabei bin ich viel furchtbarer als du, Schwester, antwortet Dream.


D steht für viele Dinge. Für welche davon stehe ich?

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