Monday, September 25, 2006

Einige Dinge bleiben



Paul Auster. Leviathan. Ich hatte das Buch schon einmal in der Hand. Hatte es aufgeschlagen, und wieder weggestellt. Ab und an wieder hervorgeholt. Doch nie den richtigen Einstieg gefunden.

Jetzt steht es wieder vor mir. In einer anderen Sprache, an einem anderen Ort. In einem Regal der Bücherei. Steht da, und wartet darauf, zum ersten Mal gelesen zu werden. Ich zögere. Stelle es in die Lücke zurück. Fahre mit dem Finger über die Titel, die daneben stehen. Komme dann wieder zu Leviathan zurück. Lege es auf den Stapel.

Am nächsten Tag schlage ich es auf. Lese die ersten sechsunddreißig Seiten in einem Zug. Bleibe dann an einem Absatz hängen.

Niemand kann sagen, wo ein Buch herkommt; am wenigsten derjenige, der es geschrieben hat. Bücher werden aus Unwissenheit geboren, und wenn sie nach ihrer Niederschrift weiterleben, dann nur durch das, was unverständlich an ihnen ist.

Ich lese die Zeile noch einmal. Greife nach einem Stift. Erinnere mich daran, das es nicht das Meine ist. Und gehe auf die Suche. Das erste Buch findet sich überraschend schnell, es steht in zweiter Reihe hinter den Suhrkamp Taschenbüchern. Ich lege die beiden Titel nebeneinander. Das eine wurde in 1994 gedruckt, in Reinbek bei Hamburg. Das andere 2005, in Chatham, Kent.

Bis auf die Buchstaben könnten die Titel unterschiedlicher nicht sein. Und der Inhalt? Seitenwechselweise vergleiche ich Passagen aus der deutschen und der englischen Version. Gehe zurück zu Satz Eins. Lese das gleiche in anderen Worten.

Six days ago, a man blew himself up by the side of a road in northern Wisconsin.
Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rand der Straße in die Luft gesprengt.

Ich frage mich, wie viel von Auster in einer Übersetzung verloren geht. Und lese dann testweise auf deutsch weiter. Auch, um der Suche nach den Sätzen, die ich behalten will, zu entgehen. Sätze wie diesem.

Jeder von uns hatte einen Abdruck in den Seelenschichten des anderen hinterlassen.

Abdrücke in den Seelenschichten des anderen. Das Bild taucht später wieder auf, in der Zeit der letzten Woche, in einem Artikel über Joan Didion und ihren Mann. Beide Autoren. Bis er plötzlich während eines gemeinsamen Abendessens stirbt. Und sie sich betäubt in einer Welt des Schmerzes, des Wahnsinns wiederfindet. Ein Jahr später beginnt sie wieder zu schreiben. Ein Buch über die Zeit danach.

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich wahnsinnig war. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich wieder stabilisierte. Als es am schlimmsten war, hatte ich keinerlei Empfinden dafür.
Ich war vollkommen darauf fokussiert, Szenen des Sterbens durchzuspielen. Ich war darauf konzentriert, wie man diese Szenen mit anderem Ausgang spielen könnte. Es geisterte als Endlosband in meinem Kopf herum. Erst auf der Seite konnte ich es anhalten.


Erst später wird mir die Paralle zwischen Auster und Didion bewusst, die Art, wie ihre reale Geschichte und sein Roman sich ineinanderfügen wie gegenteilig geformte Puzzlestücke. Leviathan ist die Geschichte des Schriftstellers Sachs, der sich selbst verliert, einen letzten Anlauf nimmt, wieder zu schreiben, und dann untertaucht, der verschollen bleibt, bis er sich drei Jahre später selbst in die Luft sprengt.

Bei beiden Geschichten steht am Ende ein Buch - der Roman ist die fiktive Erzählung der Lebensgeschichte von Sachs, betitelt nach dessen unvollendeten Manuskript: Leviathan. Das biblische Fabelwesen. Und Didion fügt ihre Erinnerungen zu einem Buch zusammen: Das Jahr magischen Denkens.

Einige Dinge bleiben.

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Sunday, September 10, 2006

unterwegs



Drei Tage Tirol. Alles fertig gepackt, von T-Shirt bis Wollmütze. Nun noch das passende Buch. Eigentlich wäre die Kafka Biografie dran, aber die ist nicht wirklich für unterwegs. Kerouac wäre besser. Nur, dass dessen Traumbuch bereits wieder in der Bücherei weilt. Dann fällt mir der logische Schritt ein, als Quergedanke zu den Kas von der Reise nach Prag, und dem Hotel namens "Trinidad": Timbuktu. Das Paul Auster Buch, das aus der Perspektive eines Hundes geschrieben ist, und das schon länger quer im Regal steht. Ich schlage es probeweise auf. Und die Reise fängt an.

Die Reise war eigentlich gar nicht so schlecht verlaufen. Sie waren hergekommen, um nach der einen Sache zu suchen, und hatten eine andere gefunden, und am Ende zog Mr. Bones das, was sie gefunden hatten, dem, was sie gesucht hatten, vor.
In der Ferne sah er einen Mann und ein kleines Mädchen laufen, aber er verschwendete keinen Gedanken an sie. Sie kamen oder gingen, und es spielte überhaupt keine Rolle, wer sie waren. Der Regen war stärker geworden, und der Wind fegte die Schokoriegelverpackungen und Papiertüten über die Straße. Mr. Bones schnüffelte ein-, zweimal und gähnte dann grundlos. Nach einer Wolle rollte er sich auf dem Boden zusammen, seufzte tief und wartete darauf, was geschehen würde.

Das ist es, denke ich. Das Buch für unterwegs. Auf dem Weg nach unten fällt mein Blick dann von Rothko in abgetönten Farben an der Wand auf Social Beat in strahlend gelb auf der Treppenstufe. Beat, klickt es in meinem Kopf. Burroughs, antwortet das Buch mit einem Zitat auf einer jenseits der Mitte aufgeschlagen Seite, und taucht von Timbuktu in Gedankenfetzen von Klaus Maekschen direkt weiter nach Tanger, in die Stille jenseits der Stadt.

"It might or might not be a dream, and
which way it falls might be in the balance
while I watch this tea glass in the sun"

das unsichtbare Buch,
das Leben
wie es sein sollte

aqui y ahora

wüste ist stille
unbeschreibliche stille
kein wort passt hier

Aqui y ahora. Ich kritzele die 3 Worte in mein kleines Notizbuch, und nehme sie mit auf meine Reise zu den Orten, die auf der Landkarte nichts als kleine weiße Kreise mit danebenstehendem Namen sind, und dabei zusammengefügt fast ein Haiku ergäben:

inn imst tumpen oetz
heiterwang und namlos
umhausen bei gries

~

Am Montag morgen dann nach Hause, um Dienstags einen Tag zwischen den Alpen daheim zu sein, um nach dem Wetter in den Delfinalpen zu sehen, und um das passende Buch für Frankreich zu finden. Simone de Beauvoir? Sartre? Da war doch noch - genau. Eines mit Meer. Marguerite Duras. Der Matrose von Gibraltar. Lange hat er gewartet. Nun ist es soweit.

Man entdeckt, was man zu entdecken vermag, in dem Alter, in dem man es vermag, und bei der Gelegenheit, bei der man es vemag.

Was so auch für das Buch selbst gelten könnte. Und für die französichen Alpen, deren persönliche Entdeckung durch ein ausgebreitetes Regengebiet über Italien erfolgte. Womit sich wiederum die Parallele zum Buch ziehen lässt, das von einer Reise handelt, die in Pisa beginnt, nach Florenz führt, weiter nach Rocca - und von dort, per Yacht, auf der Suche nach dem Matrosen von Gibraltar - nach Sète. Einem Ort, der mir bis zu dem folgendem Montag noch unbekannt war. Bis zu der Zeit, an dem wir an der Autoroute an eben diesem Sète vorbei fuhren.

Epaminondas hatte den Beruf gewechselt. Er war Lastwagenfahrer geworden, auf der Strecke Sète-Montpellier. In Ausübung diese Berufs war er dem Matrosen von Gibraltar begegnet. Der Matrose von Gibraltar hatte ebenfalls sozusagen den Beruf gewechselt. Er betrieb eine Tankstelle auf der Nationalstrasse ausgerechnet zwischen Sète und Montpellier. Sie lächelte, als sie das hörte. Ich auch.

Und - ich auch. Nichts besseres, als auf einer Reise auf solche unerwarteten Begebenheiten und Verknüpfungen zu stoßen. Daran erinnert zu werden, das die Welt ein Mosaik aus ebensolchen Verknüpfungen ist. Dass es deswegen soviele Bücher gibt, in denen eine Reise vorkommt. Denn unterwegs fällt das Mosaik mehr auf. Denke ich. Lese weiter. Und komme, einmal mehr, in Tanger an.

Doch diesmal schloss sich Tanger nicht um mich, im Gegenteil, die Stadt breitete sich immer weiter aus, und ich hätte glauben können, ich würde nie an ihr Ende gelangen, sondern würde, bei den Cafès auf dem Platz angekommen, mein Leben lang dort bleiben. Ich war verzweifelt glücklich.

Tanger. Eines Tages sollte ich doch einmal dorthin reisen. Dort in einen Zug nach Marrakesh steigen. In die Wüste gehen. An einem Schiff als Supernumerary anheuern und mit über das Mittelmeer fahren. Wie anders die Welt vom Wasser aus anzusehen wäre. Wellenläufe statt Strassenzüge. Strömungen statt Autobahnen. Wie viel besser das wäre als das Gegenstück, von dem Jay McInenerey erzählt, in einem der Bücher, das im Original einen so ganz anderen Titel trägt als in der Übersetzung. "Bright Lights, Big City" statt "Ein starker Abgang". Und das mich von Tanger aus auf die andere Seite des Atlantiks befördert, während ich am Strand von Narbonne sitze und aufs Meer schaue.

Du setzt dich auf einen Poller und schaust hinaus auf den Fluß. Flußabwärts erkennst du im Dunst die Freiheitsstatue. Am anderen Ufer heißt eine riesige Colgate-Reklametafel dich in New Jersey, dem Garden State, willkommen. Du siehst zu, wie eine Müllschute, eingehüllt in eine Wolke kreischender Möwen, würdevoll vorübergleitet und Kurs aufs offene Meer nimmt. Da bist du also mal wieder. Alles verpfuscht und kein Ort nirgends.

Kein Ort nirgends. War das nicht auch eine Zeile in dem Kerouac-Buch, das auch am Wasser beginnt, jedoch praktischerweise gerade daheim in einem Regal steht, und bei dem die deutschen Verleger gleich vorneweg auf eine Übersetzung des Originaltitels verzichtet haben? Lonesome Traveller. Erst da fällt mir auf, dass auch das Kerouac-Buch, das ich dabei habe, den Originaltitel trägt, deutsche Erstausgabe her oder hin. The Town and The City. Das Dorf in dem Buch ist Galloway. Die Stadt - New York. Und die Stimmung dort knüpft fast direkt an keinen Ort nirgends an.

Peter ging an diesem Tag durch diese lauten lebhaften Straßen. Er sah eine fette, traurig dreinblickende Sopranistin in einer Wohnung singen, offenbar eine Kandidatin für die Metropolitan Oper, wild und verrückt. Über allem standen hoch und erhaben, gleichsam den alten verrußten Dächern entspringend, die Wokenkratzer der Wall Street, fern und stolz und drohend. Er stieg die dunklen muffigen Treppen zu Dennisons Wohnung hoch, bis in den sechsten Stock in diesem düsteren und altersschwachen Mietshaus.

Peter ist Jack. Und Dennison? Ich schaue auf das Wikipedia-Blatt, das weiter hinten im Buch liegt, und einige Erläuterungen zu den Personen in der City enthält. Und lächle, einmal mehr. Will Dennison im Roman ist - William Burroughs. Durch das Will hätte ich draufkommen können, wenn ich nach der Verknüpfung gesucht hätte.

Ein dutzend Seiten tritt dann eine Figur auf, die auf dem Blatt nicht erwähnt ist, dafür umso bekannter wirkt, auch wenn die Figur namenlos bleibt:

Als Peter in Judies Wohung platzte, fand er sie im vorderen Zimmer als Gastgeberin eines jungen Mannes, den sie an diesem Morgen in einer Kneipe kennengelernt hatte. Sie tranken Bier und unterhielten sich. Er war ein junger Seemann, gerade von einer Fahrt nach Brasilien zurück, er trug eine Sonnenbrille, weite Hosen, die unten zusammenliefen, und einen merkwürdig gefärbten Seidenschal um den Hals.

Der Matrose von Gibraltar, denke ich. Markiere die Seite, und mache mir darauf eine Notiz, im Lonesome Traveller nach keinem Ort nirgends zu suchen. Dann stehe ich auf. Die Reise geht weiter.

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