Friday, December 23, 2005

Im Fluss



Freitag, der 23. Dezember. Ein Tag vor Weihnachten. In einer Woche der Begegnungen und Gedankenstrudel und Geschenkfindungen und Cafegespräche und Erledigungen.

Eine Woche im Fluss. Und dann, am 23., fast unvermittelt: Ruhe. Zeit für die letzten Seiten der Zeit, die seit 2 Wochen darauf warten, gelesen zu werden. Und ich finde: die weibliche, östliche Parallelstimme zu John Lennon. Yoko Ono.

"Was immer mir gegeben wird - ich betrachte es als versteckte Gnade. Versteckt, weil ich noch nicht weiß, welche Weisheit dahinterstecken mag. Ich weiß nur: Mir wird gegeben, was nötig und wichtig für mich ist. Ich stehe fest auf der Erde. Ich bin unter der Erde. Und in der Luft darüber. Alles zugleich."

Das Echo des Satzes schwingt nach, als ich meine Tasche für die Maurische Oase mitten im Quadrium der Stadt packe. Bademantel: weiß, zwei Saunatücher: rot, ein Buch; blau. Kenzaburo Oe. Der kluge Regenbaum. Der wie die Zeit ebenfalls 2 Wochen auf diesen Moment gewartet hat. Auf dieses Lösen der Dinge in Luft. In Wasser.

All das Wasser. Strömend unter der Dusche. Mosaikblau im Becken, dass nach außen führt. Mit Limonenaroma im Dampfbad. Wechselwarmkalt in der Eisgrotte.

Dann Medina. Leise Musik im Hintergrund. Auf Holz liegen. Einschlafen. Tagträumen. Aufwachen. Oe aufschlagen. In Japan sein. Hinter einem Haus stehen. Einen Regenbaum sehen.

"Regenbaum heißt er deshalb, weil bei ihm das Wasser, wenn es nachts einen Schauer gegeben hat, am nächsten Tag spätestens bis zum Nachmittag aus den Blättern tropft, als ob es regnet. Andere Bäume werden gleich trocken, er dagegen hat eine Menge fingerdicke kleiner Blätter, in denen er den Regen speichert."

Vielleicht ist es beim Schreiben und Malen ähnlich, denke ich. Dass wir manchmal Momente in unseren Gedanken speichern, und sie dann später, wenn sich die Tage längst weiterbewegt haben, mit Tinte auf Papier fließen lassen. Mit Farbe auf Leinwand.

Die Verwandschaft von Schriftstellern, Malern und Regenbäumen. Hier, im Ruheraum mit marokkanischen Namen scheint sie so einleuchtend wie die Lampen, die ihr Licht durch filigran gewebte Metalloberflächen, durch weißes, gelbes, grünes Glas senden.

Schade nur, dass sie hier nicht wachsen, denke ich auf dem Weg von Medina nach Hause, und suche mit meinen Schritten die letzten Schneereste, grau und weiß.

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Saturday, December 10, 2005

Die Tragödie kehrt zurück



Samstagmorgen mit Zeit. Mit John Lennon. Der vor 25 Jahren starb. 16 Tage vor meinem ungefähr 12. Geburtstag. An den ich keine Erinnerung habe. Weder an den damaligen Geburtstag noch an den lebenden John Lennon. Seltsam. Eigentlich. Wer war ich mit 12? Und wer war John Lennon, der Mensch?

Eine laute leise Antwort von ihm, in dem Artikel mit der Überschrift zum Anstecken: Vergesst die Lehrer. Lernt Schwimmen.

"Ich hab mich mit Männern geprügelt, habe Frauen geschlagen. Das ist der Grund, warum ich dauernd von Frieden rede. Es sind die gewalttätigsten Menschen, die sich für Liebe und Frieden einsetzen. Alles ist sein Gegenteil."

Alles ist sein Gegenteil. War das die Woche nicht schon einmal? Nicht in der Zeit, aber in Camus' Kleiner Prosa? Ja. Hier. Im Pascal-Zitat, dass er den Briefen an einen deutschen Freund vorangestellt hat.

"Seine Größe zeigt man nicht, indem man sich zu einem Extrem bekennt, sondern indem man beides in sich vereinigt."

Mehr Parallelen: der Anfang des ersten Camus-Briefes an den Freund. Geschrieben in der Zeit des zweiten Weltkriegs. Von Frankreich an Deutschland. Wie eine Antwort auf den Leitartikel der Zeit. 2005 - das Jahr, in dem die USA der Freund ist, der die Gerechtigkeit in ein Recht umdeutet, das prinzipell nicht allen zusteht. Der neue Worte für Folter findet. Und damit der Welt die Worte nimmt.

Sie sagten: "Die Größe meines Landes kann nicht zu teuer bezahlt werden. Alles, was ihrer Verwirklichung dient, ist gut." - "Nein," entgegnete ich, "ich kann nicht glauben, daß man alles einem bestimmten Ziel unterordnen darf. Es gibt Mittel, die der Zweck nicht heiligt. Und ich möchte mein Land lieben können, ohne aufzuhören, die Gerechtigkeit zu lieben. Indem ich die Gerechtigkeit am Leben erhalte, möchte ich mein Land am Leben erhalten." Und sie haben geantwortet: "Ach was, Sie lieben ihr Land nicht."
- Camus.

Nichts ändert sich.
Alles ändert sich.

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Tippte sie. Drückte "Veröffentlichen". Und ging dann die Treppe hinunter, zurück zur Sonne, zur Zeit. Blätterte zur nächste Seite. Zu einem Artikel, den sie übersehen hätte, wäre da nicht dieses Foto dazu gewesen, eine Bühne, eine Arena, brennende Flammen, ein griechischer Gott. Alles ziemlich weit weg. Dann fing sie an zu lesen. Und dachte, Nein. Und dann, Ja.

"Diese Zeit steht unter keinem guten Stern. Die Eliten predigen Wasser und saufen Wein. Sie beschwören Tugend und Sitte und denken doch nur an sich selbst. Die Zukunfstangst wächst, Sekten und dionysische Naturanbeter sprießen wie Pilze aus dem Boden. Am schlimmsten jedoch ist der Krieg, den die Supermacht gegen einen Schurkenstaat vom Zaun gebrochen hat. Gefangenen wird die rechte Hand abgehackt, gefoltert werden sie auch. Einst Vorbild der Völker, versinkt die Polis im Morast der Schändlichkeit, in Lug und Trug. "

Die Bakchen, heißt das Stück, das hier skizziert ist. Die Bakchen, geschrieben von Euripides, im Jahre 408 vor Christus. Das Stück der Stunde. Gespielt auf verschiedenen Bühnen der Welt. In schwierigen, verworrenen, düsteren Inszenierungen. Oder: Realitäten. Vielleicht ist es deshalb so umstritten.

Und vielleicht enthält die Interpretation des Stücks auch eine Antwort auf die immer noch offene Frage, warum Lennon erschossen wurde. Gerade Lennon.

"Wir modernen Menschen, lehrt die Inszenierung von Stein, sind mythenvergessene Doppelgänger unserer selbst und machen die Welt ahnungslos zu unserem Spiegelbild. Doch weil wir unseren Anblick, das Grinsen tautologischer Subjektivität, nicht ertragen, zerfleischen wir uns."

Oder unseren Nächsten. Den Fremden. Der den Teil von uns verkörpert, der uns peinlich ist. Den wir fürchten, weil wir uns selbst fremd geworden sind. Dieser Teil, der irgendwo vergessen liegt. Wie ein Bruchstück aus der Antike, eine Scherbe, die wir nicht entschlüsseln können. Und so zerbrechen wir sie.

Dachte sie. Und stand auf, um im Schrank nach den Fotos und Postkarten von 1980 zu suchen. Und nach der Kassette mit Lennon Liedern.

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Saturday, December 03, 2005

Der 2fache Weg



Das letzte philosophisches Cafe des Jahres, am ersten des Dezembers. Das Thema: 'Bewusstsein und Geist - buddhistische Ansichten'. Es beginnt mit dem Sprung zurück zu Null. Zum Anfang. Zur Definition von Leben.

Leben kennzeichnet sich dadurch aus
dass es eine kleine eigene Welt erschafft
und damit auch ein Weltbild,
in dessen Zentrum
das Selbst-Bewusstsein steht.


Ich denke, also bin ich, sagt das westliche Verständnis der Welt, welches auf einem Weltbild gründet, das mit einem abstrakten Begriff einsetzt, ausgesprochen von einer Lebensform jenseits unsere Lebenssphäre: Am Anfang war - das Wort. Sagte - der Schöpfer der Welt.

Szenenwechsel zur anderen Seite der Welt. Dort, im buddhistischen Weltbild, gibt es keinen Anfang, kein außerhalb. Das Leben, es schöpft sich aus sich selbst. Das Leben, es ist leiden. Und das Ich - eine Illusion, die es zu überwinden gilt.

Ich denke, also bin ich.
Und stehe einem objektiven Erkennen der Welt damit selbst im Weg.

Das Bewußtsein, im östlichen Verständnis der Welt ist es nur eine Übergangsstufe. Wir benötigen es auf dem Weg, doch ab einem Punkt des Weges führt es nicht weiter, gilt es, dieses Bewußtsein zu überschreiten, das Ich hinter sich zu lassen, um so im Lauf der Zeit und der Leben - dem Rad des Lebens zu entsteigen.

Und an dem Punkt fangen die Weltbilder sich an, zu reiben:

Wenn das Ich eine Illusion ist -
Was wird dann Wiedergeboren?


Alles beginnt, fraglich zu werden. Aber Halt - war das nicht gerade einer der Wege zur Erleuchtung, diese unfraglichen Fragen?

Koans. Die unlösbaren Sätze, die im Zen-Buddhismus zur nächsten Stufe führen. Und zu einem Namen, Suzuki. In einem seiner Zitate, das Bild der Weltbilder, die zu Barrieren werden, die von einem umfassenden Weltverständnis abhalten.

Almost all people are carrying a big board, so they cannot see the other side. They think they are just the ordinary mind, but if they take the board off they will understand, "Oh, I am Buddha, too. How can I be both Buddha and ordinary mind? It is amazing!" That is enlightenment.

Unser Brett vor dem Kopf. Es ist im Kopf. Und der Weg es zu überwinden - ist eine Strasse. Unser Vehikel, die Religion, die Philosophie, die Psychologie. Niedergeschrieben seit Jahrhunderten in Büchern. In den Sutras. In Platos Schriften. In Zen Büchern. Alten und Neuen. Als ob es das Wort wäre, das die Lösung bringt. Und ist es nicht fast ein Koan in sich selbst, wenn ein Buch über 'Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten' sagt:

Neuen Mut schöpft man, wenn man lange genug still ist, um das wahre Universum zu sehen und zu hören und zu fühlen, und nicht mehr um die eigenen Ansichten darüber kreist. Aber dieser Mut ist nichts Ungewöhnliches, Ausgefallenes.

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