Sunday, June 11, 2006

Schlafes Bruderbuch



Eigentlich lag noch Kafka im Regal, halb gelesen. Doch für das Wochenende im Schwarzwald klang Kafkas Zeit zu weit weg. Und so kam ich zurück zu Schlafes Bruder, ein Buch, das ich schon vor Mallorca in der Hand gehalten hatte. Nun passt es, Bergdorf im Buch zu Taldorf der Reise. Auch wenn die erste Seite noch fremd wirkt beim Lesen in seiner Unmittelbarkeit und Altertümlichkeit, und in der Art, mit der sie den Schluss der Geschichte im ersten Satz vorwegnimmt:

Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.
Denn er war in unsägliche und darum unglückliche Liebe zu seiner Cousine Elsbeth entbrannt und seit jener Zeit nicht länger willens, auch nur einen Augenblick zu ruhen, bis dass er das Geheimnhis der Unmöglichkeit seines Liebens zugrunde geforscht hätte.


Tod, des Schlafes Bruder, der am Fluss wohnt. Bei dem Stein, auf dem der junge Elias schon sass. Zu dem er mit Elsbeth zurückkehrt, und dann am Ende, ohne sie. Wobei die tiefere Tragik seines Lebens nicht diese unerfüllte Liebe ist, sondern die Gabe, die Elias besitzt, und die keinen Raum und kein Verständnis findet, nicht bei seinen Eltern, nicht bei seinen Lehrern, nicht bei einer einzigen Person, die den Unterschied hätte mache können, die ihm die Tür zu sich selbst hätte öffnen können.

Gesetzt man hätte ihnen damals ins Gesicht schreien dürfen, dass sich an jenem Nachmittag Johannis 1803 unter ihren Augen ein doppeltes Wunder ereignet hatte, das der Mensch- und das der Geniewerdung, sie hätten nichts begriffen. Was aber das Schlimmste ist: Als die Begabung dieses Menschen längst offenkundig war, wollte es noch immer niemand begreifen.

Später, bei der Fahrt Richtung Schauinsland und Feldberg, dann zwischen den kleinen Dörfern die Erinnerung an einen Gedanken, der im Einsteinjahr in einem Interview fiel - dass die wirkliche Frage nicht ist, was einen Menschen zu einem Genie wie Einstein macht, sondern wieviele Menschen es gibt, welche über geniale Gaben verfügen, die unentdeckt verkümmern.

Dann, eine Woche später, das Gegenstück zu der Geschichte, in einem Buch das gleichzeitig aus den USA und aus der Stadtbücherei hier stammt: Wir müssen über Kevin reden. Schon äußerlich bildet es einen Kontrast: rot und dick und gebunden, wo Schlafes Bruder klein und blau und flexibel ist. Die Gegensätze setzen sich im Inneren fort, auf so vielen Ebenen dass mir am Anfang die Verwandschft der Bücher nicht bewusst wird.

Schlafes Bruder ist die Geschichte eines Sohnes, der seinem Leben ein Ende setzt, als er gerade einmal etwas über zwanzig ist. Das Kevin-Buch ist die Geschichte der Mutter eines Sohnes, der dem Leben anderer ein Ende setzt, als er gerade noch als Kind zählt: drei Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag. In Schlafes Bruder steht die Mutter fast wie eine Fremde neben ihrem Kind, überlässt es sich selbst, und sieht sich in keiner Verantwortung. Im Kevin-Buch gibt die Mutter ihr bisheriges Leben auf, um für ihr Kind dazusein, sieht alles, was geschieht, findet trotz aller Versuche keinen Weg, zu ihrem Sohn durchzudringen, und gibt sich am Ende doch die Schuld für das, was passiert ist.

„Ich weiß, es ist meine Schuld“, sagte ich trotzig. „Ich war keine sehr gute Mutter – ich war kalt, kritisch, egoistisch. Obwohl Sie nicht behaupten können, dass ich nicht dafür bezahlt habe.“
„Na, wenn das so ist“, sagte die junge Frau mit kehliger Stimme und schloß die paar Zentimeter zwischen uns, veränderte ihrer Blickrichtung und sah mir direkt in die Augen. „Sie können Ihrer Mutter die Schuld geben, und die kann ihre beschuldigen. So ist es wenigstens früher oder später die Schuld von jemandem, der tot ist.“
Abgestumpft vor lauter Schuld, an die ich mich klammerte wie ein kleines Mädchen an seinen Plüschhasen, konnte ich ihr nicht folgen.


Eine überrschende Übereinstimmung gibt es dann doch. Am Ende steht in beiden Büchern nicht die Frage nach der Schuld und dem Schicksal, sondern die vielleicht schwierigere Frage - die nach der Liebe.

"Jetzt fehlen noch drei Tage, dann sind die achtzehn Jahre voll, und ich kann endlich verkünden, und sei es nur aus Verzweiflung oder sogar nur aus Faulheit: Ich liebe meinen Sohn."
Die Kinder blickten sie mit runden, braunen Augen an. Da trat Cosma, der Älteste, zur Mutter hin und frug mit verstellt erwachsener Stimme: "Frau Mutter, was meint Liebe?"
"Was Liebe meint?" lachte die Lukasin, küßte ihm sein glänzendes Knollennäschen und zog ihm die Kapuze über den Kopf. Denn der Regen hatte wieder eingesetzt.

Diesen Dialog gibt es so nicht wirklich. Er ist zusammengesetzt aus den letzten Zeilen der beiden Geschichten, in textlicher Verbrüderung. Und nun, Sonntag. Und ein gewisses Aufatmen dabei, dieses Buchpaar wegstellen zu können, und das Buch, das seit Montag auf seinen Tag wartet, aus dem Regal zu ziehen: Susan Sontag - Ich, etc.

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