Friday, November 24, 2006

Wie eine Insel



Es ist Mittwoch. Diese alltägliche Feststellung benötigt hier, auf der Insel, einen Moment der Konzentration. Wie schnell sich die Wochentage auf einer Insel auflösen. Keine 24 Stunden hat es dafür gebraucht. Jetzt, in der zweiten Woche, kehren sie langsam zurück: Mittwoch ist der Tag, an dem die TUI-Frau laut Welcome-Heftchen hier bei den Bungalows vorbeikommt. Und da TUI-Busse keine Fahrräder mitnehmen, wir aber mit Fahrrad da sind, fahren wir am Sonntag mit Taxi zum Flughafen. Das ist zwar noch einige Tage hin, aber daran will heute schon gedacht sein, sonst wartet der Bus auf uns, während wir schon nicht mehr da sind.

Mit dem gesuchten Welcome-Heftchen taucht auch eine ebenso passende, wenn auch unerwartete Notiz auf: eine Seite aus "Muscheln in meiner Hand", dem Inseltagebuch von Anne Morrow Lindbergh, die ich für eine Freundin kopiert hatte. Die erste Kopie war jedoch angeschnitten, und wanderte daher in den Papierkorb. Von wo ich sie dann einen Gedanken später wieder herausfischte, um sie auch selbst mitzunehmen. Auch so eine alltägliche Sache: das es manchmal einfacher ist, für andere mitzudenken als für sich selbst. Was vielleicht einer der Gründe ist, manchmal für eine gewisse Zeit auf eine Insel zu gehen.

Heute ist mein letzter Inseltag. Was habe ich bei meinen Bemühungen, meinem Suchen am Strand gewonnen? Welche Antworten und Lösungen habe ich gefunden? In meiner Tasche habe ich ein paar Muscheln, ein paar Hinweise. Nur ein paar.
Man kann nicht alle schönen Muscheln am Strand sammeln. Man kann nur einige sammeln, und die sind umso schöner, je weniger es sind. Die stellt man gesondert auf, inmitten eines freien Raums – wie eine Insel. Denn Schönheit entfaltet sich nur im freien Raum. Selbst geringe und alltägliche Dinge gewinnen, wenn der Raum sie umspült, eine Bedeutung, wie ein paar hingehauchte Herbstgräser, die auf einer asiatischen Malerei in der Ecke eines leeren Blattes stehen.


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Freitag, 24. November

Herbstgräser, die in der Ecke eines leeren Blattes stehen. So ist auch Lanzarote. Eine Insel mit viel freiem, leeren Raum. Mit Feldern aus Vulkangestein, in deren Ecken einzelne grüne Kakteen stehen. Malerisch auf eine existenzielle, eine elementare Weise. Dazu das Meer. Und der Wind. Während ich hier sitze, auf der Terrasse des Bungalows, kann ich beide hören. Das Pulsieren der Wellen ist immer da. Vielleicht schlafe ich daher tiefer und länger, kann mich jeden morgen an einen Traum erinnern, manchmal sogar an zwei.

Es ist eine Zeit des Ausruhens, des Zuhörens, und Lesens. Die Bücher, die ich dabei habe, mehr zufällig als geplant ausgewählt, alle aus dem Bücherei-Regal, dass von L nach M führt: Lopez, Mulisch, Muschg. Keine Romane, sondern Sammlungen von Kurzgeschichten, alle von ihnen. Und in allen von ihnen, eine Geschichte, in der Steine eine Rolle spielen. Was exakt zu der Insel hier mit all den Steinen hier passt, fast besser noch als Muschelgedanken. Hier das Mosaik daraus, in der Reihenfolge, in der ich die Passagen gelesen habe:

Dienstag, 21. November
Es ist lange her, dass ich zum letzten Mal in einem japanischen Garten gesessen bin; dabei konnte es vorkommen, dass ein Leben, in dem ich nicht mein eigenes erkannte, mich beim Blick auf einen verwitterten Stein durchfuhr, Gott weiß, wie weit her, und wo hinaus. Ich muß es nicht wissen; es ist genug, daß ich den Stein sehe. Wenn ich vorbei bin, ist er immer noch da.
Die Steine bleiben, denn sie wissen vom Bleibenden nichts. Aber ich habe das Glück, diese Steine zu sehen, und sie haben die stumme Gnade, sich von mir anschauen zu lassen.
- Adolf Muschg; „Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat“


Mittwoch, 22. November
Wenn die langen Briefe
geschrieben und gelesen sind,

wenn Entfernungen absolut werden
und auch das Reden
Entfernung ist, bleibt
nur das Hören

Ich habe die dunklen Herzen
der Steine gehört
die einmal im Leben schlagen
- William Pitt Root, erste Seite in Barry Lopez „Winterchronik“


Freitag, 24 November
Vergeßlichkeit ist natürlich die Bedingung der Welt. Steine haben nie etwas gewußt, sie sind deshalb ewig; für Pflanzen gilt das schon weniger. Bei Tieren schlägt die Zeit heftiger zu, aber noch nicht essentiell. Bei den Menschen hingegen muß jede Generation aus Selbsterhaltungstrieb fast alles vergessen, was der vorherigen geschehen ist und was sie daraus gelernt hat. Wenn jemand alles wüßte, was je geschehen ist, oder auch nur, was in diesem Augenblick in der Welt passiert, bliebe sein Herz im selben Augenblick stehen. Er würde sich schlagartig in unbeseelte Materie verwandeln, denn mit diesem Wissen ist Leben nicht mehr möglich. Die Menschen können leben dank dessen, was sie von den Steinen geerbt haben: das schlechte Gedächtnis.
- Harry Mulisch, „Vorfall“


So betrachtet, macht es doppelt Sinn, dass es keine Muschel war, die ich bei meinem ersten Ausflug zur Lavaküste am Strand mitgenommen habe, sondern ein Stein. Ein kleiner, runder, schwarzer Stein, der sich in der Hand gleichzeitig leichtmütig und schwermütig anfühlt.

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Tuesday, November 07, 2006

Kleine, gemeine Geschichten



Wenn die Frankfurter Buchmesse am Dienstag, 17. Oktober eröffnet wird, wann gibt es dann die ZeitLiteratur? Am darauf folgenden Donnerstag, dachte ich. Und lag damit exakt 7 Tage daneben. So erhielt ich statt gebündelter Buchbesprechungen eine Beilage namens InDesign. Oder InStyle. Und nun? Nun Geduld, stellte I. lächelnd fest. Zehn Tage später überreichte sie mir eine fröhlich bunte Tasche, in der sich die gesuchten Seiten befanden.

Wunderbar, dachte ich. Um dann auf Seite 3 gleich vor der nächsten Frage zu stehen. Die sich auf dem Mount Abu dem Schriftsteller Martin Mosebach stellte, der momentan in Asien weilt, und von dort den Eröffnungsbeitrag zur der Ausgabe beisteuerte. Entsprechend dem Schwerpunktthema der Buchmesse: eine Reisegeschichte aus Indien bei der es um eine Begegnung mit einem weisen Mann geht. Das Ganze gespickt mit den kleinen, großen Fragen des Lebens.

Auf dem Weg beschäftigen uns die Gedanken, wie wir der Begegnung mit dem Heiligen gerecht werden könnten. Wäre es passend, ihn etwas zu fragen? Und wie müsste eine Frage passenderweise beschaffen sein? Müssten nicht ganz grundsätzliche Dinge besprochen werden in der Höhle? Aber würde ein solcher Weiser uns nicht sofort durchschauen, wenn wir da mit einer wichtigtuerischen Frage aufträten, die wir uns für den Anlass zurechtgelegt hätten? Wäre es nicht richtiger zu schweigen? Vielleicht würde der Heilige uns eine Lehre, vielleicht auch nur einen einzigen Satz mitgeben, der uns lange im Gedächtnis bliebe?

Statt zu fragen, setzen sich die Besucher der Höhle. Und hören dem Schweigen des Yogi zu. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Es folgt noch eine Pointe, in der das Schweigen gebrochen wird, und Besucher, Yogi und Leser zusammen wieder in die Leichtigkeit und Oberflächlichkeit des Jetzt gebracht werden. Schließlich folgen der Geschichte ansehnliche 100 Seiten Text, die alle darauf warten, gelesen zu werden.

Ich blättere brav weiter, bleibe jedoch vorerst nur an den Fotos hängen - diesen faszinierend farbigen Momente aus Chennai, aus Jaisalmer, aus Srinagar.

Dann stoße ich auf Haruki Murakami. Besprochen von Helge Timmerberg. Gott ist ein Herr aus Tokyo, steht auf der Seite. Und einige Zeilen später bin ich wieder dort, in dieser merkwürdigen Geschichte, die ich selbst vor ein paar Monaten gelesen habe, dieser Geschichte über die Kellnerin, die einem Hotelgast das Essen aufs Zimmer bringt. Der Hotelgast entpuppt sich als freundlicher alter Herr, der sie nach ihrem Wunsch für das Leben fragt, als er erfährt, dass sie Geburtstag hat.

Aber der Kellnerin fällt nichts ein. "Sie wollen nicht reich und berühmt werden?" fragt er sie. Die Kellnerin denkt noch einmal nach. Doch, da gibt es etwas, ja, sie hat einen Wunsch. Dann geht sie wieder runter, und die Geschichte geht weiter und weiter und arbeitet offensichtlich mit allem weiteren auf die Klärung von zwei Fragen hin. Was hat sie sich gewünscht? Und: Ist der Wunsch in Erfüllung gegangen? Aber Murakami denkt nicht daran, diese Fragen zu beantworten.

Und wirft genau dadurch noch eine ganze Reihe anderer Fragen auf, die einem auch dann noch nachfolgen, wenn man die Geschichte längst gelesen und zur Seite gelegt hat.

Warum lese ich trotzdem weiter? Warum lasse ich mir das gefallen, diese Geschichten, die wie kleine spitze Schuhe sind, die gegen mein Schienbein treten, um daran zu erinnern, dass es noch Fragen zu klären gibt? Wie man so etwas nennt? Zen-Buddhismus vielleicht. Die haben auch so kleine, gemeine Geschichten, die keinen Sinn ergeben und einen beschäftigen, bis man sie geknackt hat.

Jetzt Murakami, denke ich. Doch das Buch war nicht meines, erinnere ich mich, nachdem ich meine Buchregale besichtigt habe. Dafür findet sich das kunstvoll gestaltet Buch von Kenzaburo Oe, dass ich in Prag in dem Second-Hand-Shop namens Anagram gefunden habe. A quiet life. Und es enthält ebenso, wen würde das überraschen, mehr Fragen als Antworten. Eine besonders bemerkenswerte davon findet sich im 3. Kapitel, in dem es über die möglichen Aussagen eines Films im speziellen und von Künstlern im allgemeinen geht.

"I can't comment on the movie with the kind of formula where one says, 'On the whole, isn't it trying to say something like this?' This, however, it sort of what I thought. The 'end of the world' will come. It won't come today or tomorrow. Most likely, it won't come in our time. But it will come creeping along, slowly, as if it didn't want to. And we'll go on living, as if we didn't want to, because all we can do is wait in fearful uncertainty. Now if things were really like this, wouldn't it be natural for us to want to snatch a preview of this 'end of the world' that's so slow in coming? This, after all, is sort of what I think the job of an artist is."

Das Ende der Welt. Wo hatte ich das gerade? Richtig. In der Themenstellung des Irseer Pegasus. "...als ob morgen die Welt unterginge..." stand dort, über den kleingedruckten Details, die lediglich einen Anhaltspunkt der zur Verfügung stehenden Lesezeit gaben, und hervorhoben, dass man sich durch diese Aufgabenstellung nicht eingegrenzt fühlen solle. Bleiben zwei Fragen. Besteht zwischen der Textstelle bei Oe und der Aufgabenstellung in Irsee ein Zusammenhang? Und: Sind sich Fragezeichen insgesamt ihrer Wirkung bewusst?

Bis morgen, dann.

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