Thursday, December 28, 2006

Symmetrien



Manchmal sind Bücher wie Spiegelbilder. Und die Worte bilden Ringe im Lauf der Zeit. Bleiben an Bildern, an Orten hängen. Einer der Orte, der solche Ringe zieht, ist Prag. Im Juni war ich dort. Das Ziel ergab sich aus einer Kombination von möglichen Flugterminen und Ticketpreisen. Moskau wäre eine Alternative gewesen, genauso wie Budapest - diese Orte stehen immer noch mit Flugzeiten auf einem Blatt, das vorläufig unter "Reisen" abgelegt ist. Eine andere Folge der Ticketsuche war das Finden der Germanwings Story Award Webseite. "Schicken Sie uns eine Geschichte vom Fliegen", stand auf der Seite. Prag, dachte ich. Kam dann aus Prag mit 89 Bildern zurück. Und ohne Fluggeschichte.

Dafür nahm ich - ohne es zu wissen - eine Geschichte über Prag mit nach Lanzarote. Sie versteckte sich in Harry Mulischs Kurzgeschichtensammlung unter dem Titel "Symmetrie". Begann mit Mathematik. Und stieg dann im 3. Teil in den Flieger, mit Zwischenstopp an der Moldau.

Das vorletzte Mal, dass ich selbst in Prag war, Freitag, den 27. Dezember 1968 (nachdem auch mein Vater inzwischen gestorben war), hatte ich nur ein paar Stunden Zeit. Es war düster und kalt. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind ein Niemandsland, mit dem kein Mensch etwas anzufangen weiß
Zu Hause in Amsterdam hatte ich in den vergangenen Tagen den Flug der Apollo 8 verfolgt, mit der die ersten Menschen die Anziehungskraft der Erde verlassen hatten, um den Mond zu umkreisen. Ich schaute auf meine Uhr. Zu meiner Überraschung sah ich, dass es noch genau drei Minuten dauern würde, bis die Kapsel über dem Stillen Ozen in die Atmosphäre zurückkehren würde. Bei der Figur des heiligen Nepomuk, der an dieser Stelle ins Wasser gestoßen worden war, und nun eine Schneemütze trug, blieb ich stehen und wartete. In der Tiefe wurden die dicken Flocken plötzlich ein Teil der Moldau, so dass es war, als hätte es sie nie gegeben. Als die drei Minuten verstrichen waren, lief ich weiter.

Die Geschichte, gelesen im November am Strand, begleitete mich bis in den Dezember, und gab die Antwort auf die Frage, an welchem Wochentag ich geboren wurde: an einem Dienstag. Drei Tage vor dem Freitag in der Geschichte, vor der Rückkehr der Apollokapsel. Und als ob diese kleinen Wissenssplitter sich gegenseitig anzögen, lief genau am 24. diesen Jahres eine Sendung über jene Apollomission.

Und noch eine andere Verknüpfung gab es dieses Weihnachten: nachdem ich die Reise nach Kafiristhan als Film gesehen hatte, wurde ich neugierig auf mehr. Und fand ein Buch von Annemarie Schwarzenbach, das genau diese Reise nach Afghanistan beschreibt: Alle Wege sind offen. Das Buch, es hat die Form eines Reisetagebuchs, und dreht sich um das Dreigestirn, das Annemarie Schwarzenbachs Leben formte.

Leben und Reisen.
Reisen und Schreiben.
Schreiben und Leben.


Die drei Zeilen, sie blieben vielleicht auch deshalb hängen, weil sie meinem eigenen Weg so nahe kommen. Dachte ich, heute morgen. Und ging zum Briefkasten. Der enthielt eine Buchsendung. Und die enthielt das Taschenbuch vom Germanwings Story Award. Mit 11 Geschichten vom Fliegen. Eine davon ist von mir: Zugvögel. Die Skizze dazu hatte ich schon, bevor ich überhaupt von der Ausschreibung gehört hatte. Geschrieben auf der Reise nach .. Mallorca. Der Blogeintrag dazu heißt Vom Wasser, und dreht sich, wie der Name schon sagt, weniger um Zugvögel, und mehr um das Meer.

Und das Reisebuch?
Gibt es hier: Geschichten vom Fliegen.

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Wednesday, December 20, 2006

Schwimmen im Winter



1939, in dem Jahr, in dem mein Vater geboren wurde, in dem Jahr, in dem Europa auf den zweiten Weltkrieg zusteuert, reisen zwei Frauen mit dem Auto von Genf über den Balkan nach Afghanistan. Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart. Annemarie Schwarzenbach schreibt über die Reise ein Buch: das glückliche Tal.

Es ist die letzte Chance, mich in die Hand zu bekommen, da die europäische Krise Tag für Tag zunimmt. Diese Reise muss uns endgültig dazu verhelfen, vernünftige, verantwortungsbewusste Menschen zu werden.

2001 entsteht in Anlehnung an ihr Buch ein Film: Die Reise nach Kafiristan. Weitere fünf Jahre später findet eine DVD des Films den Weg in den Recorder hier. Und ich? Bin fasziniert von den Bildern, den Worten des Films. Und schlafe dann in der Mitte des Films ein. Auch beim zweiten Versuch. Ich verstehe es nicht. Und erinnere mich dann an die Szene, in der Ella träumt, von der Treppe zu dem Ort in den Bergen. Vielleicht versuchen meine Gedanken ihr dorthin zu folgen, denke ich, aber mein Morgengedächtnis gibt keine Erinnerung preis. Stattdessen bringt es Stücke eines Songs mit. It's just another day for you and me in paradise. Es war mal mein Passwort, fällt mir ein. IJADIP. Getippt jeden morgen in eine Tastatur in einem Büro. Bis ich dann eines Tages wusste, ich muss gehen. Von dort gehen. Auf eine Reise gehen. Alleine.

Um zu überleben, sind die meisten Spezies unseres Planeten gezwungen, sämtliche Erfahrungen, die sie machen, in eine von vier Gruppen einzuordnen. Was immer ihnen begegnen mag, ist entweder eine Nahrungsquelle, eine Bedrohung, ein Mittel zur Fortpflanzung oder bedeutungslos.

Worte von Evelyn Glennie. Aus einem Interview auf Deusche, das im Begleitheft zur DVD Touch the Sound zitiert wird. Vier Gruppen von Erfahrungen zum Überleben, fünf Stufen in Maslows Pyramide der Bedürfnisse, und eine wissenschaftliche Theorie der zehn Dimensionen der Welt. Zehn Dimensionen, und keine Reaktion der dreidimensionalen Welt auf diese Stringtheorie.

Daher dann zwei Tage später eine andere Dimension in der gewohnten Dimension: China in der Stuttgarter Staatsgalerie. 560 Bilder von Menschen in China, aufgenomment von Menschen in China. Die Bilder bilden vier Gruppen, optisch in Quader gefasst (sind diese Worte eigentlich verwandt? Bild und bilden?). Die Themen der Quader, fast eine Spiegelung zu den vier Dimensionen von Erfahrung: Existenz, Beziehung, Begehren und Zeit. Verflochten mit den Bildunterschriften ergeben sich daraus zen-ähnliche Gedanken.

Zeit ist ein ledernes Boot auf dem gelben Fluss.
Begehren ist ein Billiardspiel am Rande eines Feldes.
Existenz ist Schwimmen im Winter.

Daheim blättere ich selbst in der Zeit zurück. Und finde ein zweidrittel Jahr zuvor am gleichen Tag: Korea. In der Ausstellung: "On Difference#2". Von der ich ein Plakat mitgebracht hatte. Und ein Buch, das mit einem weiten Gedanken anfängt: Our life is our message. Ein Satz, der mich an den Anfang dieses Blogs selbst zurückbringt, zum 7. November 2005, zu Sommerstücke im November, die mit der Frage enden, auf die "our life is our message" vielleicht eine Antwort ist, eine Verknüpfung aus den beiden Feldern Existenz und Zeit:

Woher kommt dieses Bedürfnis überhaupt, die Momente zu skizzieren, in Worten, auf Papier, sie zu drehen. Dieses Bedürfnis, geschriebene Worte zu teilen. Und diese Versuche, in Sätzen auf den Grund der Dinge zu tauchen.

Es wird Zeit, schwimmen zu gehen.

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Friday, December 01, 2006

Verknüpfungen



Das Leben ist eine Kette von Ereignissen, deren Muster und Verknüpfungen so komplex sind, dass man sie nicht erkennt, während man in ihnen versponnen ist. Erst mit Abstand werden die Strukturen deutlich. Das ist einer der Gründe, an einen anderen Ort zu gehen, für eine gewisse Zeit. Tapetenwechsel, ist der umgangssprachliche Begriff dafür. Der treffend genau auf diese Strukturen abziehlt, die an anderen Orten andere Farben haben.

Gut ist es auch, das richtige Buch für den anderen Ort mit im Gepäck zu haben. Vorzugsweise läuft es einem von alleine über den Weg, sieht man es in dem Regal der Bücherei, in dem man etwas ganz anderes gesucht hat, bekommt man es geliehen.

So traf ich die Feuerfrau. Sie begleitete mich zu den Vulkanen nach Lanzarote, und sagte mir dort genau das, in anderen Worten.

Wer frühere Ereignisse zusammenbringt, lernt sich selber kennen. Aber viele Menschen bewahren die Erinnerungen nicht im Gedächtnis bis sie einen Sinn ergeben. Sie wissen nicht einmal, dass sie es können. Dass auch das Licht mancher Sterne uns erst dann erreicht, wenn sie längst erloschen sind.

Die Konsequenz daraus hatte sie mir davor schon erläutert.

Man kann die Welt nicht sehen, ohne sich selbst zu sehen.

Es war dieser Satz, der hängen blieb, der eine Schlaufe bildete, durch den sich dann einen Tag später der nächste Gedanke zog. Dieser hatte eine Jahr daheim darauf gewartet, gelesen und gedacht zu werden. Doch es brauchte offensichtlich diese Reise, um ihm den richtigen Raum zu geben, und welcher Ort könnte passender für Zeit- und Gedankreisen sein als eine Insel.

"Bildung – Alles was man wissen muß", heißt das Buch, das von Griechenland über Rom durch das Mittelalter in die Neuzeit, und von Dante über Goethe und Shakespeare bis zu James Joyce führt, das mich erst in die griechische Götterwelt beförderte, und von dort direkt in die Arme von Sokrates, Platon und Aristoteles. Und zu dem philosophischen Gleichnis, das wie ein Gegenstück zu der Zeile oben scheint, und genauso wie die Feuerfrau mit einer Flamme verbunden ist – das Höhlengleichnis Platons:

Das Reich der Erscheinungen ist eine Höhle, in der wir mit dem Rücken zu einem flackernden Feuer sitzen, während zwischen uns und dem Feuer wirkliche Gestalten vorbeiziehen. Wir aber sehen nur ihre schwankenden Schatten auf der Wand. Sie sind unsere Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit. Dort auf der Insel schien sie vor allem dann real, wenn man mit dem Raum alleine war. Am Ende des Strandes, bei den Wellen, oder in den langgezogenen Kurven der Straßen, wenn man nur das schwarz des Vulkangesteins und das blau des Himmels und des Meeres sieht.

Dort, am Ende des Strandes, bahnte sich dann schon die nächste Verknüpfung an, ohne dass ich diese als solche hätte erkennen können. Eine Frau ging vorbei, in Jeans und Shirt. Das Shirt stammte von einem anderen Ort, es trug den Namen: Jordan. Petra. Ein Ort, an dem ich noch nie war, den ich aber durch I. kenne. Von ihr erhielt ich dann 3 Tage nach dem Ende der Inselzeit eine Seite aus der Zeit. Mit einem Bild von Petra. Aufgenommen 1994 von Annie Leibovitz. Auf dem Bild ist auch eine kleine Figur zu sehen, die dort zwischen den Steinmauern steht. Susan Sontag. Oder: das Bild eines Menschen, stehend zwischen dem Dunkel und dem Licht. Das Bild eines Menschen, der zu dem Zeitpunkt noch 10 Jahre zu leben hatte.

Der Tod ist wie ein Riss im Gewebe der Tage. Durch den Riss verschwindet jemand, durch ihn können die Lebenden etwas erkennen. Was? Vielleicht sich selber. Wer ist man, angesichts dieses Risses? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Oder keine.

Dem Riss. Man ist ihm auch näher in der Ferne. Genauso wie den Antworten. Vielleicht ist das der Grund, dass so viele Geschichten und Bilder auf Reisen entstehen, an den Orten jenseits unseres gewohnten Seins.

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