Monday, October 16, 2006
Rhapsody in Rom
Manche Orte sucht man sich aus. Träumt von ihnen. Kauft Bücher darüber, lange bevor man sicher weiß, wann man gehen wird. Und ob überhaupt.
Andere Orte tauchen durch unkonventionelle Verkettungen von Ursachen und Gegebenheiten an unerwarteten Terminen im Kalender auf. Zum Beispiel so: weil im Juli 2006 die Fussball WM war, und Ronnie in der Firma arbeitet, welche die Fussball-Sticker samt Alben im Programm hat, und weil diese Firma ihren Hauptsitz in Italien hat, und im Jahr 1961 gegründet wurde, also demnach dieses Jahr fünfundvierzigstes Firmenjubiläum feiert, und vielleicht auch weil die Italiener die Franzosen im Finale besiegt haben, kam Mitte September der Plan auf, das alles mit einem kleinen Firmen-Get-Together zu feiern. Auf einem Schiff. In Italien. Mit Besichtigung von Rom. Alle weiteren Reisedetails ungewiss, aber Partner mit eingeladen. Wer ohne Partner kommt, wird im Zweifelsfall per Zufallsprinzip in Kabinen verpaart. "Kommst du dann mit," fragt Ronnie. Wenn das nicht der romantischste aller Gründe ist, um auf Reisen zu gehen, denke ich, als ich meine Koffer packe. Dabei fällt mir ein, dass ich noch einen Romführer kaufen könnte. Der liegt dann erst einmal im Koffer, während ich in Alain de Bottons Buch "Vom Reisen" lese.
Wenn das Streben nach Glück unser Leben beherrscht, erschließen uns vielleicht nur wenige unserer Handlungen soviel über die Dynamik dieser Suche - mit all ihrer Innbrunst und ihren Paradoxien - wie die Reisen, die wir unternehmen. Im Gegensatz zu der ungetrübten, dauerhaften Zufriedenheit, die wir erwarten, erweist das Glück mit und an einem anderen Ort sich für einen wachen Geist offenbar zwangsläufig als nur kurze und flüchtige Erscheinung: als Episode, in der wir empfänglich sind für die uns umgebende Welt. Dieser Zustand hält aber selten länger als zehn Minuten an.
Einen Tag später, im Hafen von Genua, fühle ich genau diese Flüchtigkeit, während ich dastehe, auf dem Deck 5 der Rhapsody, auf der Terrasse des Outrigger Cafés. Der Boden bebt, der Schlot raucht, das Schiffshorn tönt, die Welt vor, über und unter uns bewegt sich. Es ist das erste Mal, das ich das Auslaufen eines Kreuzfahrtschiffs von dessen Bord aus erlebe. Ich mache ein Foto von dem Moment, der so real ist, dass er wie ein Film wirkt. Ein paar Minuten später ertönt ein Gong. Essenszeit. Wo ist nun noch einmal das Restaurant? Jemand rempelt mich an. Ein Handy klingelt. Das Menü hat 5 Gänge, bei begrenzter Zeit, da in 2 Sittings dinniert wird. Nach dem Essen erklärt uns der Kellner, dass es sich empfielt, zwischen dem 2. und 3. Gang zu wählen. "I didn't want to tell you right away," sagt er entschuldigend. Ich sehne mich an einen Ort ohne tickende Uhr. Gehe für eine Viertelstunde auf Deck 4, in unsere Kabine. Setze mich auf das grün-blaue Bett und schaue aus dem Fenster, sehe nur mich, mache das Licht aus, sehe das Meer. Mache das Licht nach einer Weile wieder an und blättere in Alain de Bottons Gedanken.
Wenn wir an der Tankstelle und im Motel Poesie finden, wenn Flughäfen und Eisenbahnwaggons uns anziehen, dann vielleicht deshalb, weil wir trotz ihrer architektonischen Dürftigkeit und ihrer Unbequemlichkeit, trotz ihrer schreienden Farben und ihrer grellen Beleuchtung instinktiv wahrnehmen, dass diese isolierten Orte uns den materiellen Rahmen für eine Alternative zur egoistischen Lässigkeit, zu den Gewohnheiten und Beschränkungen der gewöhnlichen Welt bieten, in die wir eingebunden sind.
Jemand anders hier an Bord hat wohl einen ähnlichen Gedanken gehabt. Auf dem Weg zurück zu den anderen ins Outrigger bleibt mein Blick an einem Bild im Treppenhaus hängen. Es zeigt New York, den Broadway, und ein Theater. Das Stück, das dort gespielt wird: "Endstation Sehnsucht." Darauf trinke ich einen Espresso. Und sehe vom Bug aus den Wellen zu. 18 Knoten macht das Schiff, wenn es auf vollen Touren läuft, lerne ich. Also 33 Stundenkilometer. Und: die Welle, die das Schiff antreibt, wird aus einem Stück geschmiedet. Ich würde gern den Maschinenraum anschauen. Einen Blick hinter die Kulissen werfen. Doch das ist aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Dafür gibt es um 24.00 Uhr Pizza und Focaccia in den Salons, für alle, die eventuell doch noch etwas Hunger haben. Statt mit Focaccia wird der Tag für mich mit Worten enden, beschließe ich. Mit einem Mail nach Hause.
Heute morgen waren wir noch in Modena, in einem Hotel mit Rosentapeten und Ölbildern, die mit gehäkelten Haken aufgehängt waren. Heute mittag sind wir dann per Bus in Genua angekommen, wo ein Schiff auf uns gewartet hat: die MSC Rhapsody. Die hat um 19.00 Uhr ihre Leinen gelöst, und ist nun auf dem Weg nach Rom. Oder bessergesagt: auf dem Weg nach Civitaveccia, von wo aus es dann mit Bussen nach Rom geht. Und ja, es ist alles ungefähr so surreal wie der Name des Schiffs, der genau zu dem Bild hier in unserer Kabine passt, und eine Szene aus den „West Indies“ zeigt.
Das Foto des Tages: der Blick nach Genua beim Auslaufen aus dem Hafen. Die dunkle Wolke rechts oben ist vom Schiffskamin. Der Frachter links ist aus China. Zum Glück haben wir eine Kabine mit Fenster. Dann kann ich morgen rausschauen wenn ich aufwache, und mich frage wo ich bin.
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Der nächste Tag beginnt mit einem Sonnenaufgang. Und einer Busfahrt. Ich denke daran, den Romführer einzupacken. Und so lese ich, während der Bus die Autostrada mit Blick auf Felder und Schafe entlangrollt, Informationsschnipsel und Miniratschläge über die Stadt, die am Ende der Autobahn wartet.
Die Metropole am Tiber hat ihren Besuchern viel zu bieten. Versuchen sie nicht, alles auf einmal zu sehen. Weniger ist oftmals mehr.
"Sono pazzi questi romani" (Die spinnen, die Römer) - schon lange vor Asterix interpretierte der Volksmund so die berühmte Abkürzung S.P.Q.R., mit der im antiken Rom der Senat seine Beschlüsse unterzeichnete: Senatus Popolusque Romanus (im Namen des Senats und des römischen Volkes).
Dann: Rom. In echt. Vom Bus aus gesehen. Mit Blickrichtungs-Ansagen per Mikro. Jetzt links. Jetzt rechts. Jetzt nach vorne. Jetzt wieder links. Dann alle aussteigen. Avanti, avanti. Kolosseum, Forum Romanum, Titusbogen, Saturntempelsäulen, Via Sacra.
Zum Abschluss umkreisen wir das Kolosseum noch einmal per Bus. Einen Tag später, auf dem Schiff, taucht es in dem Roman auf, dass mir eine Freundin in weiser Voraussicht mitgegeben hat: Jan Weiler. Maria, ihm schmeckt's nicht! Geschichten von meiner italienischen Sippe. Geschichten aus dem Italien jenseits der Reiseführer.
Mein Schwiegervater hat eine typische Eigenschaft der Entwurzelten, also derer, die nicht wirklich dort zu Hause sind, wo sie wohnen, und auch nicht richtig dort hingehören, wo sie herkommen. Wenn er in Deutschland ist, gibt es für ihn nichts Schöneres als Italien, das Land seiner Vorfahren und des Weins und so weiter. Alles ist in Italien besser. Dieses Bild wendet sich jedoch just in der Sekunde, in der er italienischen Boden betritt. Die Deutschen seien große Erfinder, vor allem die Disziplin der Deutschen sei bewundernswert, erklärt er dann. Wenn das Kolosseum nicht in Rom stünde, sondern beispielsweise in München, so würde dort heute noch der FC Bayern spielen, weil es dann nämlich immer noch tadellos in Schuss wäre.
Das Kolosseum, und ganz Rom, so wie es früher aussah. Ich versuche den Zeitsprung im Geist. Er gelingt nicht wirklich. Vielleicht schaue ich in der Bücherei daheim nach einem Michelangelo-Buch, überlege ich. Oder nach einem anderen Buch, das von der Zeit damals erzählt. Bücher. Eine Zeile aus einem Büchereibuch, das daheim blieb, weil es in Frankreich spielt, fällt mir ein, aus Amélie Nothombs Buch "Der Professor":
Aber auch die Bücher sind Nachbarn - Traumnachbarn, die einen nur besuchen, wenn man sie herbeiwünscht, und wieder gehen, wenn man genug von ihnen hat.
Genau wie bei Reiseberichten. Oder Romanen. Man kann sie, im Gegensatz zu der realen Reise, genau passend zur Stimmung und zum Wetter lesen. Genau, sagt der Tropfen, der auf meinen Arm fällt. Genau, genau, sagt der Himmel. Ich flüchte mich ins Trockene, unter ein Sonnendach, dass so zum Regendach wird. Blättere noch einmal in Jan Weilers Buch. Stolpere über einen Satz, der auch im Romführer stehen könnte.
Italiener wissen eben, was wahrer Luxus ist, nämlich die Möglichkeiten, die sich einem bieten, nicht zu nutzen.
Das machen wir dann auch am nächsten Tag: wir nehmen den Bus nicht. Bleiben an Bord. Lesen. Träumen. Schauen dem Sonnenuntergang von Anfang bis Ende zu. Gehen dann Essen. Wie voll ein Tag freier Zeit sein kann.
Nachts wecken mich Wellen. Im Dunkeln schaue ich vom Kabinenfenster dem aufgewirbelten Wasser zu, das am Schiffsrumpf in hypnotischen weißen Kreiseln vorbeizieht. Plötzlich tauchen links Lichter auf, was keinen Sinn macht, weil die Küste eigentlich rechterhand liegt, wenn man von Civitaveccia nach Genua schippert. Träume ich? Irgendwo in der Tasche muss doch noch eine Karte sein, fällt mir ein. Sie findet sich zwischen einer Seite aus 43Things und dem Deckplan, und löst das Rätsel: es ist die Insel Elba, die dort in der Nacht leuchtet.
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