Monday, October 30, 2006

Aufbruch in die Seiten-Serengeti



Ende Oktober. Die Bäume, noch grün. Die 5 Literatur-Wettbewerb-Deadlines, die sich aus unerfindlichen Gründen alle auf den 31.10. konzentriert haben, hinter mir. Vier davon erwiesen sich als besonders kniffelige Steine auf dem Weg durch den Kalender: die Kurzgeschichte zum Thema "Utopia - Die Gesellschaft von Morgen", 10 Seiten. Die Reisegeschichte "So fern, so nah,", bei der den drei Gewinnern eine Reise nach Afrika winkt, inklusive Literaturworkshop, 4 Seiten. Die Inselschreiber-Ausschreibung mit dem verdächtig leicht dahingehauchten Thema "Sommerfrische", ebenfalls 4 Seiten. Und schließlich Irsee. Das thematische Gegenstück zu Utopia: "als ob Morgen die Welt unterginge", in 15 Minuten Lesezeit.

All diese Texte, geschrieben und eingesandt, nun Teil von Textstapeln, auf Entscheidung wartend. "Und jetzt?" fragte der Timer in meinem Gehirn, der die letzten 4 Wochen mit dem Jonglieren von Sätzen und Terminen beschäftigt war. "Und jetzt, das Jetzt", antwortete ich. Und ging zu Stegmaier, die neue Zeit kaufen. Dort, als Leitartikel des Reiseteils: Afrika. Und die Geschichte einer Safari, die vom Ablauf parallel zu dieser Reise durch das Land der Worte verlief:

Aufbruch in die Serengeti. Der Weg führt zunächst durch grünes Samhügelland, die feuchten Täler sind jetzt, in der großen Regenzeit, durchwirkt vom Teppich gelber Lantana-Blüten. Nach zwanzig Kilometern wird das Land staubstrocken und dürr, durch einen schütteren Wald von Schirmakazien, in dem Giraffen herumstolzieren, geht es hinunter in die Malanja-Senke. Kurze Rast in Oduvai, einem Wallfahrtsort für Paläanthopologen. In einem kleinen Museum ist eine Nachbildung des Schädels von Australopithecus boisei zu bewundern, dem Nussknackermenschen, der in der darunterliegenden Schlucht ausgegraben wurde.
- Bartholomäus Grill

Der Nussknackermensch. Das bin ich, in diesem Monat der Worte, der zu knackenden Textnüsse. Doch es gibt nicht nur Nüsse, sondern auch kreiselnde Blätter: nach dem abschließenden Punkt unter dem Inseltext mache ich einen Ausflug in die Bücherei, und sammle dort eine Auswahl Bücher aus den Regalen. Katharina Hackers Habenichtse. John Updikes Landleben. Und J.M. Coetzees Youth. Das auf Seite 3 das Inselthema widerspiegelt. Und dann auf der drittletzten Seite ausführlich in den Dschungel der Wörter taucht, ohne Lantana-Blüten.

He is proving something: that each man is an island.
..
He is afraid: afraid of writing, afraid of women. He may pull faces at the poems he reads in Ambit and Agenda, but at least they are there, in print, in the world. How is he to know that the men who wrote them did not spend years squirming as fastidiously as he in front of the blank page? They squirmed, but then finally they pulled themselves together and wrote as best they could what had to be written, and mailed it out, and suffered the humiliation of rejection or the equal humiliation of seeing their effusions in cold print, in all their poverty.

Die Sehnsucht nach dem Text, der allen Blicken standhält. Vor allem dem eigenen. Er taucht auch in der Zeit auf, auf einer meiner Lieblingsseiten, auf der letzten Seite des Lebens (was für eine krude Symbolik zu diesem Thema), in "Ich habe einen Traum". Diesmal ist es der Traum von Georg Kreisler, der 1938 geboren ist. In Wien. Von dort nach New York ging, und 1955 nach Wien zurückkam. Der mit 88 immer noch an neuen Projekten arbeitet. Und der immer noch träumt.

Ich träume davon, perfekt zu sein, wenn ich schreibe, komponiere, inszeniere. Ich bin nie zufrieden mit mir, weil ich einerseits weiß, wie diese Perfektion aussehen würde, und andererseits, dass sich dieser Traum von Perfektion nie erfüllen wird. Aber ich glaube, das geht jedem Künstler so, jedem wirklichen Künstler.

Eine ganz andere Art von Utopia, etwas später: ein X-Men-Sonderband. In dem, wie so oft, das Gute gegen das Böse kämpft, wobei das Böse sich in diesem Fall in den Reihen des Guten versteckt hat, unter einer Maske. Als die Maske fällt, beginnt der Kampf, in dem es um nichts weniger als das Überleben der X-Men und der menschlichen Rasse geht. Auf einer der skurrilsten Seiten finden sich die Telephatin Emma Frost und der Mensch mit Löwengesicht und blauer Haut- und Haarfarbe, Beast, auf einem treibenden Raumschiff mitten im pazifischen Ozean wieder.

"Irgend etwas Schlimmes ist in Gange," mutmaßt Beast dort, während er versucht, die Ereignisse zu einer Skizze verbindet, die er in Ermangelung von Papier und Stift mit seinen Krallen auf die Aussenhülle des Raumschiffs ritzt. "Plötzlich ergibt alles einen Sinn," stellt er fest, "Sublime und seine U-Men, Feng Tu, die Droge Kick, der Aufstand an der Schule und.." Dann stöhnt er auf, und hebt seine Hände, und sagt den wunderbaren Satz: "So ruiniere ich mir meine Krallen! All meine Ideen - ich brauche dringend.. einen Stift."

Zusammen ergeben sie eine Art Gleichnis, denke ich. Der junge Mann in Coetzee's Roman, der verzweifelt vor dem weißen Blatt sitzt, dem alle Tinte der Welt nicht aus der Situation helfen können. Der Gepard aus Südafrika, der dasitzt und schaut. Und der blaue Löwe, voller Ideen, aber ohne Stift.

Die nächste Nuss? Sie wartet schon, ein gutes Stück Zeit entfernt: die Junge Akademie fragt "Wer hat die Wahl?", und erwartet die Antwort in maximal 30.000 Zeichen bis zum 31. Dezember.

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