Monday, November 28, 2005

Ein Lied aus Stille



Sonntagmorgen um kurz nach elf. Frost auf den Bäumen entlang der Strasse nach Köngen. In der Kurve, ein einzelnes gelbes Blatt, segelnd im Wind. Wie ein Vorspann für die literarische Matinee, die dort in Köngen im Otto-Rennefeld unter dem Leitmotiv "Herbst / Winter" wartet.

Dort, auf dem gekachelten Kaminsims, brennende Kerzen. Und ein Bild von if, dessen Worte aus dem Sommer stammen, aus einer Samstagsyogastunde. Hier hallen sie farbig wieder.

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen
aber versuchen will ich ihn.

- Rainer Maria Rilke

Die wachsenden Ringe, sie fügen sich nur kurze Zeit später zum Kreis des Lebens, in einer Zeichnung für Kinder, einer Illustration der Zeiten des Tages, des Jahres, des Lebens. Der Herbst, in fließenden Formen, bildet darin einen Übergang, eine Spanne die von den reifenden Früchten zu den fallenden Blättern führt, vom Äußeren ins Innere.

Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben.

Weh dem, der jetzt
noch keine Heimat hat.

- Rilke / Nietzsche

Rilke und Nitzsche. Ihre Stimmen, ein ungeplantes Duett. Wer hätte das erwartet? Das ist das schöne am Matinee - die sich ergebenden Spiegelungen der Textzeilen, der freie Lauf der Gedankenketten, der Bilder. Fast ein Dialog der Gedichte, der sich spinnt von Nietzsche Abschied zu tausend Wüsten stumm und kalt direkt zu Morgensterns Blätterfall im Netz der Zweige; von der Tür in die Leere zum leisen Lächeln in der Mitte des Schmerzes, und dann wieder zurück zu Nietzsche, zu seiner anderen Seite.

Du lerne lächeln
wenn das Laub
dem leichten Wind
ein leichter Raub

Wie wollt ihr
neu werden
wenn ihr nicht erst
Asche werdet


- Morgenstern / Nietzsche

Und vielleicht sind wir dann doch den Bäumen ähnlicher als wir denken, die ihre Blätter verlieren, sie gehen lassen zu ihrer Zeit, nachdem sie eine Knospe gebildet haben, im Vertrauen darauf, dass jenseits der Dunkelheit des Winters ein anderer Ring des Lebens wartet, ein weiteres Koan, das sich, wie auch Gedichte, nicht endgültig lösen lasst, und dadurch tiefer dringt, in den Raum jenseits des bedachten Wegs.

Wer das Licht begehrt
muss ins Dunkel gehn
Wo kein Weg mehr ist
ist des Wegs Beginn

- Hausmann

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Thursday, November 24, 2005

Die Fremden



Camus im November. Muss wohl am philosophischen Cafe liegen. Oder daran, dass sein Name immer wieder auftaucht, aber dabei in meiner Vorstellung nur ein verschwommenes Bild wachruft. Auf der Suche nach ihm im Büchereiregal, zuerst diese blassen Heftchen in Plastikfolie, mit Kaffeeflecken. Dann ein dicker Wälzer, abschreckend schwer, daher wohl auch fast wie neu, obwohl schon alt. Und ein Buch von Zweitausendeins, das sich Sachcomic nennt.

Es fängt an mit dem Ende.

"4. Januar 1960. Nachmittags. Südlich von Paris, bei dem Dorf Villeblevin, 24 Kilometer von Sens entfernt, kommt auf der RN5 ein Facel Vega von der Fahrbahn ab und rast gegen einen Baum. Auf dem Beifahrersitz des völlig zerstörten Autos sofort tot: der Algerienfranzose, Résistancekämpfer und Literaturnobelpreisträger Albert Camus."

24 Kilometer vom Sinn entfernt. Es klingt fast wie Ironie, wo gerade Camus dem Leben einen Sinn abesprochen hat, davon ausgehend, dass wir zufällig in diese Welt geworfen wurden, und das Ende des Lebens schlicht der Tod sei. Was ihn dabei mehr berührte als der fehlende Sinn war der Umstand, dass unser Geist sich damit nicht abfinden will, und ständig nach einem tieferen Sinn sucht. Nach Camus ist somit nicht das Leben das Absurde -

"Absurd ist vielmehr der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Inneren des Menschen laut wird.
...
Dann stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Strassenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Strassenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus - das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das 'Warum' da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an."


Dieses Warum. Es lässt uns einen Schritt vom Strom der Zeit zurücktreten, gibt uns ein zweites Ich an die Hand, und mit ihm werden die Wege des Alltags zu Labyrinthen. Und wir zu Fremden in dem Raum, der bis zum Warum fraglos unser war, und der nun Kulisse unseres Suchens ist. So rollen wir die Fragen, stoßen an die Türen, die zu zwei steinigen Weg öffnen. Sehnen uns dort an der Weggabelung vielleicht zurück in die Zeit des Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag.

Erinnern uns dann an den Mythos von Sisyphos. An sein von Camus nachskizziertes Schicksal. Rollen sie weiter, die Frage nach dem Sinn unseres Seins. Und versuchen dabei zu lächeln.

"Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen."

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Thursday, November 17, 2005

Au Revoir im Automat



Gestern: Vollmond in den Zweigen hängend, um 6 Uhr abends.

Heute: Traumstücke zum Aufwachen. Ein Stadtplatz, eine Gruppe beim Aufbrechen, eine vergessene Jacke. Meine vergessene Jacke. Ich gehe zurück, sie zu holen. Und finde dort statt der dunklen Sommerjacke eine helle Winterjacke.

Später dann, mittags, die Fortsetzung des Traums in der Realität. Ich ziehe die dunkle Winterjacke an, packe den Stapel Oktoberbücher in den hellen Rucksack, 'Sommerstück', 'Osten, Westen' und 'Everything is Illuminated', und mache mich auf den Weg zur Bücherei.

Dort, an der Tür, ein LesArt Poster. Innen, ein neuer Kasten. Passfotos, denke ich. Und liege knapp daneben. Statt Bildern gibt es beim AutorMat Worte gegen Einwurf. Krimi, Gedichte, oder eine Geschichte. Ich stehe und warte, doch der Appartat bleibt stumm. Keiner drin, keine Chance auf Zuhören, auf das Einfangen einer Zeile.

Nur ein Stapel Autorenkarten neben dem Kasten. Ich nehme eine, und sehe darauf - Jochen Weeber. Den ich kenne. Was ein spezieller Zufall ist, da die Zahl der mir persönlich bekannten Autoren sich doch deutlich im zweistelligen Bereich bewegt. Vielleicht im Cafe, denke ich, die Tatsache ignorierend, dass Automaten ja gerade dazu da sind, die Anwesenheit eines Menschen zu ersetzen.

Also folgerichtig auch Fehlschlag im Cafe. Dafür einen Stock höher, Bücher. Und mein Kopf noch nicht ganz da. So fange ich bei Z an und bleibe erst ab C richtig hängen. Canetti und Auster. Und: Camus. Nachträge aus Hampstead. Keine Lösungen, dafür zeitweilige Gedanken.

"Es hilft einem gar nicht zu wissen, daß es keine Lösung gibt, wenn es um das einzige Problem geht."

"Tagebücher, die zu genau werden, sind das Ende der Freiheit. Man kann sie darum nur zeitweilig führen, und die 'leeren' Zeiten dazwischen sind die vollen."

Unten dann wieder der Kasten. Die Neugier auf Worte. Und ein 50 Cent Stück in der Tasche. Nun noch entscheiden. Minikrimi, Gedichte oder Kurzgeschichte. Einwurf. Erwartungsvolles Starren auf die Holzwand. Sollte da nicht ein Monitor sein? Und sollte das Geld beim Einwerfen nicht Klimpern, sollte jetzt nicht irgendein Mechanismus auslösen, der die Worte anstößt?

Bei dem Gedanke bewegt sich die Wand. Wird zu Boden gestellt. Ich schaue nun - dem Autor in die Augen. "Hallo," sagt der, lächelnd. "Hallo," sage ich, automatisiert. Und erlebe - meine erste PrivatAutorMatLesung. Die mit einem Au Revoir anfängt.

au revoir

ein auge bleibt
selten trocken

bei so szenen
an bahnhöfen.

wenn a. wegfährt
winkt sie mit der
rechten

und wischt

mit ihrer
linken.

leute schauen
sich sowas gern an,
während sie currywurst
essen.

wenn a. wegfährt
essen leute

wurst mit der
rechten

und brötchen
mit der linken.

bei so szenen
an bahnhöfen

bleibt ein
auge selten
trocken

und niemand
isst obst, obwohl
das
viel schöner wäre.


- Jochen Weeber (Webseite)

Wir sollten einen Kaffee trinken gehen, stellen wir nach der Lesung fest, aber das geht nicht, da der AutorMat ohne Autor eine wirkliche Rätselkiste wäre. Daher also Au Revoir, und natürlich fällt mir erst im Auto ein, dass mein Handy ja auch Fotos machen kann, wenn man den richtigen Knopf drückt.

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Saturday, November 12, 2005

Etwas hatte sich verändert



Fast die gleiche Zeit, eine Woche später. Immer noch zu mild für November, immer noch Sommerstücke auf der Treppe zur Terrasse.

"Ein Nachtrag. Der Vollständigkeit halber, wegen der Lust am Erzählen, aber auch, um aufzubewahren, was, als wir es noch nicht sehen konnten, schon auf der Kippe stand: auf der Kippe zum Nichtmehrsein."

Ist es das, was uns zum Schreiben bringt, zum Ausschneiden von Papiermomenten aus der Tageszeit, um sie dann der Magnetwand anzuvertrauen, die sie entgegen der Gravitationskraft von Zeit und Raum genau an diesen einen Punkten hält, in diesem einen Mosaikmuster unserer konzentrierten Kalendertage, in Symbolen die wir nur durch unsere eigene Erinnerung entschlüsseln können?

Und ist es die Überrschung, dieses eine Muster in anderer Art zu sehen, in Worten die ein anderer Mensch geschrieben hat, die uns an einen Text fesselt?

"Etwas hatte sich verändert.
Etwas würde sich verändern, heute sagen wir alle, wir hätten gewußt, dass es so nicht bleiben konnte. Der Schrei jedoch, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden. Aus unserer Haut sind wir nicht herausgekommen, anstelle der Netze, die wir zerrissen, haben sich neue geknüpft. Spinnwebfein oder dick wie Stricke. Wieder haben wir Zeit gebraucht, sie zu bemerken."


Und auch das Bemerkenswert: dass unsere Erinnerung nicht trägt. Dass sie sich verändert, mit jedem Erinnern, mit jedem Verknüpfen mit dem Jetzt. Wie ein Buch, das bei jedem Aufschlagen seine Worte ein wenig verschiebt, je nach Ort und Stimmung. Schwer sich diese Weichheit der Wahrnehmung vorzustellen. Schwerer noch, sich daran zu erinnern, beim Driften durch das, was war, was immer noch ist, in uns.

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Thursday, November 10, 2005

antizyklisch, eigenwillig, unmodisch

Zurück vom Buchladen. Der nur ein paar Schritte vom Apotheker ist, und damit ein unwiderstehlicher Seitenspaziersprung. Besonders jetzt, wo sich all die Buchmessebücher auf all den Buchherbsttischen stapeln, Jonathan Franzen und Jonathan Safran Foer, Martin Walser und Theodor Kramer, Julian Barnes und Zsuzsa Bank.

Zwischen den Klappentextreihen, drei querlaufende Fragen. Wer schreibt das alles? Und warum? Und: Wo anfangen mit Lesen?



Die Antworten, später, nicht in einem Buch, sondern in der Zeitliteraturbeilage. Nummer 42, 60. Jahrgang, Okotber 2005. Head: "Auf 104 Seiten die wichtigsten Bücher des Herbstes." Ist sie nicht grandios, diese Gründlichkeit schon auf der Titelseite? Darunter, vier Enten, markiert mit einer roten Ingerandnotiz, "kein H5N1", und mit einem Zeitkommentar der erst beim dritten Hinschauen auffällt:

"Vier Kritiker bei der Arbeit: Der erste versinkt vor Ehrfurcht, der zweite schickt sich an zu einem Verriss, der dritte eilt herbei, um zu sehen, was los ist, und der vierte hat noch gar nichts begriffen."

Neugierig wie immer bei der ersten Begegnung mit neuen Worten schlage ich auf, nicht auf Seite 1, sondern in der Mitte, und lande direkt in Land der unaussprechlichen Autoren. Korea. Kim Chi-ha. Blütenneid. Und Kim Soo-Young. Jenseits des Rausches. "ich mag / kein Leben führen von irgend etwas berauscht."

Dann eine Seite weiter, unerwartet, als erster Satz, eine mögliche Antwort auf Frage zwei. Und als letzter Satz, wie eine Reflektion, der Gegenpol dazu.

"Tatsächlich sind wir die meiste Zeit unseres Lebens damit beschäftigt, der eigenen Bedeutungslosigkeit die Stirn zu bieten.
..
Das Jetzt zu beschreiben. Es ist für koreanische Autorinnen keine Selbstverständlichkeit. Einige publizieren auch heute unter Pseudonym; ihr Ich ist noch immer ein empfindliches Wort."

Von Korea aus lese ich, der Kultur dort entsprechend, rückwärts. Und komme in Russland an. In einem Buch, das genau so zu lesen ist. In Sprüngen. In langen Zügen. Und siehe da, dort taucht sie querköpfig auf, die Antwort auf die erste Frage. Oder jedenfalls, ein Jerofejewesches Porträt dazu. Gefolgt von der Konsequenz des Unreimbaren. Und einer dagegensteuernden Gebrauchsanleitung zu den Einstiegen in die Seitenwelt.

"Ein erstaunlicher Mensch. Unbegabt. Ein Genie. Ein Original. Zu finster. Der fröhlichste aller Menschen. Ein Dichter. Ein Sonderling. Ein Faulenzer. Unglaublich arbeitsam. Ein Rowdy. Ein stilles Wasser. Ein politischer Verbrecher. Ein Bücherwurm. Ein Philosoph. Ein Kind. Ein Student des kühlen Lebens.
..
Das Schlimme an dieser schlimmen Geschichte ist nun, dss sie sich wiederholt. Dass Jerofejew, Querkopf und Schlitzohr, erneut eingespannt, vereinnahmt, vereindeutigt wird.
..
Ich empfehle den Einstieg in den Text daher ganz ohne kommentierende Fahrkarte. Schwarzfahrer zu Schwarzfahrer sozusagen. Dabei den einen Schlüsselsatz nicht vergessn, der alle, der alles im Fließgewicht hält: "Und ich trank unverzüglich."


Die Alternative dazu, auf einer anderen Seite, diesmal nicht in rot, sondern in blau markiert von meiner Vorleserin, in der Kritik zur Reise nach Plovdiv. Ein Ort, der in Bulgarien liegt, und zu den ältesten europäischen Städten gehört. Die Menschen, die dort leben, heißen: Plovdiver. Und ihr Lebensmotto heißt: "Was wir nicht schaffen, lassen wir einfach liegen."

Was ich auch tue. Aber nicht für lang. Schon ein paar Stunden später öffne ich die Seiten wieder. Diesmal in den USA. Bei einer Autorin, die anders ist. Paula Fox. Antizyklisch, eigenwillig, unmodisch. Und gedankentief.

"Alles, was ich geschrieben habe, ist ein großes Ganzes in mir. Ich erinnere Stücke und weiß oft nicht, in welchem Buch sie vorkamen. Alles zusammen ist das, was ich vom Leben weiß - von meinem Leben also, denn nur davon weiß man wirklich etwas.
..
Unwissen über sich selbst ist ein unzulässiger und hoch gefährlicher Zustand. Vielen scheint der Gedanke unerträglich zu sein, dass hell und dunkel zwei Aspekte einer Farbe sind - und es darüber hinaus auch noch Zwischentöne gibt. Dies aber ist genau der Ort des Schriftstellers. Schreiben heißt, zur Anwältin dieser Widersprüche und Zwischentöne zu werden."

Dann .. ein Klingeln. Und das Versprechen der raschelnden Seiten auf mehr, als ich sie zusammenfalte. Oder ist das Entenflügelflüstern?

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Tuesday, November 08, 2005

Kierkegaard und KoKi



Novembermorgen, die Sonne ein Milchfleck über den verschwommenen Konturen von weiß rauchenden Kaminen, und ich blättere in dem kleinen Stapel aus Zeitschriften und Faltblättern, der sich in den letzten Tagen angesammelt hat, in überraschend einheitlichen Farben - Der Spiegel: rot in rot, die KoKi Vorschau: rot umrandet, nur das philosophische Cafe: kompromisslos schwarz.

Dafür die Inhalte: bunt.

Im Spiegel: Kierkegaard. Fast wie eine Fortsetzung des philosophischen Cafes, auch im Namen, von'Existieren kann man nur mit Leidenschaft', zu 'Gegen das fromme Dösen'. Der Artikel erzählt von einem Philosophen, der in seiner Zeitlosigkeit und Relevanz an Sokrates erinnert:

"Er will Fragen stellen, Zweifel sähen und alle Anlehnungsbedürfnisse durchkreuzen. Seinem Bemühen um den Einzelnen entspringt das grundsätzliche Misstrauen gegen die Mehrheiten und ihre Meinungen. Und damit der Kampf gege die, die sie herstellen: die Zeitungen.
...
Glauben bedeutet für ihn Wahl, die radikale Existenzentscheidung, der Sprung ins Offene.
...
Man muss nicht gläubig sein, um von Kierkegaard aufgewühlt zu werden. Nein, er verlangt lediglich, ernst mit sich selber zu machen. Doch das ist wohl zu allen Zeiten eine Ungeheuerlichkeit.“

Im Koki: 'Nicht mehr/Noch nicht' von Daniel Kunle, 2004. 'Modern Times' von Charlie Chaplin, 1936; laut FAZ der "modernste Film der Saison". Ende des Monats dann, entgegen des Titels nicht wirklich weihnachtlich angehaucht: 'Paradise Now', von Hany Abu Assad, gedreht in Israel und Palästina. Und als Gegenstück dazu, 'L.A. Crash' von Paul Haggis, gedreht in Hollywood:

"Es gibt keine Guten und Bösen in diesem Film, sondern nur Menschen, die ihren Ansprüchen nicht gerecht werden. So gelingt es dem Regisseur, ganz ohne erhobenen Zeigefinger jeden Zuschauer mit seinem eigenen Inneren zu konfrontieren, mit all den fatalen Nuancen des Vorurteils unter der falschen Oberfläche von Toleranz."

Die Zeile aus der Filmkritik, sie alleine lohnt schon. Und führt fast direkt weiter ins philosophisches Cafe führen, das passenderweise am 1. Dezember die Tür öffnet. Mit einem Thema, das weiter ins Innere, unter die Oberfläche führt, zum Zentrum des Denkens: 'Bewusstsein und Geist, betrachtet aus östlicher Sicht'. Und auch hier, Tiefe bereits in der Kurzbeschreibung:

"Das Bewusstsein - der blinde Fleck des Denkens, das sich selbst nicht sehen kann. Der buddhistischen Auffassung zufolge, eine Sinneswahrnehmung: dadurch trügerisch, ein schwankendes Rohr hinsichtlich seiner Zuverlässigkeit. Dem gegenüber steht die Überzeugung, das alles Zeitliche, Begrenzte und Wirkliche überwunden werden kann - auch auf dem Weg der Erkenntnis. Ein Selbstwiderspruch?"

Zumindest dem Milchfleck am Himmel geht nun ein Licht auf. Da müsste man ja fast eine rot-schwarze Momentaufnahme knipsen…

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Monday, November 07, 2005

Sommerstücke im November



Montag morgen. Ronnie auf dem Weg zur großen Panini Jahreskonferenz, im Anzug, um 2006 zu skizzieren. In Zahlen. Und mein Horoskop, wie immer zwischen Bedachtheit und Humor pendelnd, meint zu mir: „In many respects this is a good time to sit back and take a long look at how your life is working out.“

Was mich zum lächeln brachte – weil ich gestern mittag endlich den Mut hatte, das Skizzenbuch wieder in die Hand zu nehmen, das mir eine Freundin im Dezember geschenkt hatte (“Henry Miller hatte das auch”), und dass ich mit in Mallorca hatte um Ideen darin zu skizzieren, die dann hoffentlich irgendwann ihre Form finden würde. Und eine neue Seite aufzuschlagen und den Moment auf der Treppe zu skizzieren. November. Sonne. Die Luft voller 12 Uhr Glockentöne. Und die letzten Sommerblumen des Jahres, immer noch blühend. In Nachbars Garten.

Dazu passend, das Buch das ich gerade lese: Sommerstück, Christa Wolf. Ein seltsam schönes trauriges Buch.

„In der früheren Zeit müssen die Häuser ihren Platz in der Landschaft ganz von selbst gefunden haben. Wie sie es nur gemacht haben, fragten wir uns. Die Vorfahren der Bauern, von denen Antonis und Louisa dieses Haus gekauft hatten, hattes es sich doch gewiß nicht leisten können, sentimental zu sein. Aber ihr praktischer Sinn scheint ihren Blick für die Schönheit nicht getrübt zu haben. In einer leichten Bodenwelle, die lange Fensterfront der Mittags- und Abendsonne zugewandt, liegt es da, das Haus. Einladend, das ist das Wort.

Wenn draußen keiner zu sehen war, blickte man durch die Geranien auf den Fensterbrettern in die Wohnstube. Da saß Luise and dem alten rissigen Tisch und nähte oder schrieb, oder wenigstens lag Tilli, der mächtige schwarzweiße Kater, schlafend im Schaukelstuhl. Und wenn nun er die Seele des Hauses war? Seele, Seele, ein fremder Klang. Euer Haus hat eine Seele, Luisa. Luisa, erschrocken: Ich weiß. Red nicht drüber. Oft hab ich Angst, wir verstehen sie nicht. Sie ist so verletzlich.“


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Und ja. Woher kommt dieses Bedürfnis überhaupt, die Momente zu skizzieren, in Worten, auf Papier, sie zu drehen. Dieses Bedürfnis, geschriebene Worte zu teilen. Und diese Versuche, in Sätzen auf den Grund der Dinge zu tauchen. Und wäre das nicht ein wunderbarer Stoff für eine Geschichte?

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