Thursday, November 10, 2005

antizyklisch, eigenwillig, unmodisch

Zurück vom Buchladen. Der nur ein paar Schritte vom Apotheker ist, und damit ein unwiderstehlicher Seitenspaziersprung. Besonders jetzt, wo sich all die Buchmessebücher auf all den Buchherbsttischen stapeln, Jonathan Franzen und Jonathan Safran Foer, Martin Walser und Theodor Kramer, Julian Barnes und Zsuzsa Bank.

Zwischen den Klappentextreihen, drei querlaufende Fragen. Wer schreibt das alles? Und warum? Und: Wo anfangen mit Lesen?



Die Antworten, später, nicht in einem Buch, sondern in der Zeitliteraturbeilage. Nummer 42, 60. Jahrgang, Okotber 2005. Head: "Auf 104 Seiten die wichtigsten Bücher des Herbstes." Ist sie nicht grandios, diese Gründlichkeit schon auf der Titelseite? Darunter, vier Enten, markiert mit einer roten Ingerandnotiz, "kein H5N1", und mit einem Zeitkommentar der erst beim dritten Hinschauen auffällt:

"Vier Kritiker bei der Arbeit: Der erste versinkt vor Ehrfurcht, der zweite schickt sich an zu einem Verriss, der dritte eilt herbei, um zu sehen, was los ist, und der vierte hat noch gar nichts begriffen."

Neugierig wie immer bei der ersten Begegnung mit neuen Worten schlage ich auf, nicht auf Seite 1, sondern in der Mitte, und lande direkt in Land der unaussprechlichen Autoren. Korea. Kim Chi-ha. Blütenneid. Und Kim Soo-Young. Jenseits des Rausches. "ich mag / kein Leben führen von irgend etwas berauscht."

Dann eine Seite weiter, unerwartet, als erster Satz, eine mögliche Antwort auf Frage zwei. Und als letzter Satz, wie eine Reflektion, der Gegenpol dazu.

"Tatsächlich sind wir die meiste Zeit unseres Lebens damit beschäftigt, der eigenen Bedeutungslosigkeit die Stirn zu bieten.
..
Das Jetzt zu beschreiben. Es ist für koreanische Autorinnen keine Selbstverständlichkeit. Einige publizieren auch heute unter Pseudonym; ihr Ich ist noch immer ein empfindliches Wort."

Von Korea aus lese ich, der Kultur dort entsprechend, rückwärts. Und komme in Russland an. In einem Buch, das genau so zu lesen ist. In Sprüngen. In langen Zügen. Und siehe da, dort taucht sie querköpfig auf, die Antwort auf die erste Frage. Oder jedenfalls, ein Jerofejewesches Porträt dazu. Gefolgt von der Konsequenz des Unreimbaren. Und einer dagegensteuernden Gebrauchsanleitung zu den Einstiegen in die Seitenwelt.

"Ein erstaunlicher Mensch. Unbegabt. Ein Genie. Ein Original. Zu finster. Der fröhlichste aller Menschen. Ein Dichter. Ein Sonderling. Ein Faulenzer. Unglaublich arbeitsam. Ein Rowdy. Ein stilles Wasser. Ein politischer Verbrecher. Ein Bücherwurm. Ein Philosoph. Ein Kind. Ein Student des kühlen Lebens.
..
Das Schlimme an dieser schlimmen Geschichte ist nun, dss sie sich wiederholt. Dass Jerofejew, Querkopf und Schlitzohr, erneut eingespannt, vereinnahmt, vereindeutigt wird.
..
Ich empfehle den Einstieg in den Text daher ganz ohne kommentierende Fahrkarte. Schwarzfahrer zu Schwarzfahrer sozusagen. Dabei den einen Schlüsselsatz nicht vergessn, der alle, der alles im Fließgewicht hält: "Und ich trank unverzüglich."


Die Alternative dazu, auf einer anderen Seite, diesmal nicht in rot, sondern in blau markiert von meiner Vorleserin, in der Kritik zur Reise nach Plovdiv. Ein Ort, der in Bulgarien liegt, und zu den ältesten europäischen Städten gehört. Die Menschen, die dort leben, heißen: Plovdiver. Und ihr Lebensmotto heißt: "Was wir nicht schaffen, lassen wir einfach liegen."

Was ich auch tue. Aber nicht für lang. Schon ein paar Stunden später öffne ich die Seiten wieder. Diesmal in den USA. Bei einer Autorin, die anders ist. Paula Fox. Antizyklisch, eigenwillig, unmodisch. Und gedankentief.

"Alles, was ich geschrieben habe, ist ein großes Ganzes in mir. Ich erinnere Stücke und weiß oft nicht, in welchem Buch sie vorkamen. Alles zusammen ist das, was ich vom Leben weiß - von meinem Leben also, denn nur davon weiß man wirklich etwas.
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Unwissen über sich selbst ist ein unzulässiger und hoch gefährlicher Zustand. Vielen scheint der Gedanke unerträglich zu sein, dass hell und dunkel zwei Aspekte einer Farbe sind - und es darüber hinaus auch noch Zwischentöne gibt. Dies aber ist genau der Ort des Schriftstellers. Schreiben heißt, zur Anwältin dieser Widersprüche und Zwischentöne zu werden."

Dann .. ein Klingeln. Und das Versprechen der raschelnden Seiten auf mehr, als ich sie zusammenfalte. Oder ist das Entenflügelflüstern?

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