Christa Wolf. Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Ein Tage-Buch in einem anderen Sinn: ein Buch über jeweils einen bestimmten, zufälligen Tag im Jahr, gesetzt durch einen Schreibwettbewerb, und dann weiterbeschrieben, jedes Jahr, am 27. September.
Ein Buch mit einem Eigenleben, das Tagebuchgedanken, Tabebuchseiten zu sich, zu mir zieht. Wie das Literaturblatt Januar/Februar 2006, dass ich im Literaturcafe Köngen mitnahm. Dort, auf Seite 5, Innenansichten - Ein Besuch im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen, das 3500 Einzeltstücke von 1300 Autoren beherbergt. 1300 Leben.
"Die Lektüre ist manchmal schwer erträglich, denn die Stille des Papiers bewahrt jeden Seufzer, jeden unterdrückten Schrei. An die Berichte der "Zeitzeugen" in einschlägigen Dokumentationen ist der Fernsehzuschauer inzwischen ja gewöhnt; die Fernsehkultur folgt verlässlichen Regeln und bereitet selbst schlimmste Themen in geradezu beruhigender Weise auf. Die Tagebuchschreiber entziehen sich dieser kulturellen Abmachung und verfolgen keinen anderen Zweck als einen rein persönlichen, intimen. Das macht sie so interessant."
- Susanne Fritz
So wie der Brief Marcelle Sauvageots. Geschrieben zwischen dem 7. November und dem 24. Dezember 1940. Nicht Teil des Tagebucharchivs, aber Teil der Stadtbücherei, in Form eines kleinen, lilanen Buches, mit dem feinen, weiß gesetzten Titel "Fast ganz die Deine." Ein Brief in 65 Seiten, die erste Seite, geschrieben im Abteil eines Zuges, am Tag nach dem Abschied. Die letzte Seite, geschrieben an Weihnachten. Dazwischen, ein Abschied, auch ein Ankommen.
"Ich bin allein, aber heute nicht mehr als sonst; vielleicht weniger. An diesem Abend weiß ich, daß alles zerbrochen ist, und es ist fast eine Erleichterung. Die Vergangenheit will sterben.
..
Verlangen Sie nicht von mir, daß ich über die Schulter zu Ihnen zurücklicke, und begleiten Sie mich nicht von ferne. Lassen Sie mich."
- Marcelle Sauvageots
Im Anschluss an den Brief, das Vorwort zur zweiten Auflage des Buches. Und in dessen Anschluss, ein nachdenkliches Nachwort. All die Worte.
"Wie kommt es, daß die alte Geschichte von unglücklicher Liebe, erzählt von Marcelle Sauvageot, uns berührt? Daß die Autorin anfing, aus Not und Trennungsschmerz zu schreiben, erklärt nichts. Allein mit radikaler Ehrlichkeit kommt man so etwas nicht bei. Doch Sauvageot erzählt, ohne auf uns zu sehen, sucht kein Mitleid, will nicht gut dastehen vor uns. Nur ein Bedürfnis treibt den Text an: die Lebens-Notwendigkeit, zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Sie spüren wir, hier schlägt das Herz dieser Prosa, radikal, schonunglos, streng, manchmal komisch, immer präzise, der Liebe verpflichtet. Ein eigener Ton entsteht daraus, ungewöhnlich, ein Stück unliterarischer, jedenfalls nicht beabsichtigter Literatur, ein Stück Zeitlosigkeit - das uns berührt, weil es davon spricht, was uns am Leben hält."
- Ulrike Draesner im Nachwort
Zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Das ewige Schicksal des Menschen, dass er die Puzzleteile seines Lebens zu einem Bild zusammensetzen will, um so sein Selbstbild sehen zu können. Und dass dabei fehlende Puzzleteile alles andere in den Hintergrund drängen, in weitere Fragezeichen verwandeln, die den Boden, auf dem wir gerade noch dachten sicher zu stehen, ins Schwanken bringen. Und auch das Papier, auf dem wir schreiben, die Worte selbst:
"Am Abend hatten wir auch über die Frage gesprochen: Was nun eigentlich, verdammt noch mal, Literatur sei. Wie sie sich von der Vielzahl von Texten unterscheidet, von denen ich Massen zugeschickt bekomme, auch jetzt gerade wieder die tagebuchartige Aufzeichungen einer jungen Frau aus Westdeutschland, die sehr genau die Trennung von ihrem Mann beschreibt, und ihre Depression danach. Wieso soll nun das, fragte ich, nicht Literatur sein? Muß denn dieses Fiction-Element, die Verschiebung ins Nicht-Ich, die sogenannte Verallgemeinerung dabei sein, um etwas Geschriebenes zu Literatur zu machen?"
- Christa Wolf
Die Frage, sie bleibt am 27. September 1980 unbeantwortet. Um dann unerwartet in der Zeit Literatur 2003, die bis dato unbeachtet im Papierstapel lag, wieder aufzutauchen. (Oder wusste irgend ein Teil von mir die ganze Zeit, dass die Zeit dort in dem Papierberg liegt, und auf Seite 6 einen langen Artikel über das Wolf Tagebuch hat? Obwohl ich mich nicht einmal erinnern kann, diese Seiten je aufgeschlagen zu haben?).
Aber zurück in die Zeit. 2003. Gegengegedanken zur Tagebuch-Lilteratur.
"Im Tagebuch bleibt die Wirklichkeit von der Wahrheit, wie Christa Wolf sie anstrebt, noch weiter entfernt als im Roman. Vielleicht deshalb behandelt sie ihr ureigenstes Thema nur andeutungsweise: Wie macht man das, Literatur? Wie macht man das, Leben? Das eine stößt einem zu, das andere ringt man sich ab. Mal sagt man sich: Das einzig Interessante am Leben ist das Schreiben. Dann wieder denkt man: Das einzig Schlimme am Leben ist das Schreiben. Letztlich ist das Schlimme doch das einzig Interessante. Es macht übrigens auch uns Lesern am meisten Spaß."
- Evelyn Finger
Spaß. Ist das hier als Ironie gemeint, oder im Ernst? (Was für eine surreale Frage: Ist dieser Spaß ernst gemeint?). Auch offen, die Frage ob diese Kritik sich auf das gleiche Tagebuch bezieht, das ich gerade lese, dieses Buch, das voller Gedanken über das Schreiben und das Leben ist. Und über andere Schriftsteller. Biermann. Böll. Grass.
Und Johnson. Auch das im Jahr 1980, ein Jahr das im ersten Absatz mit Gedanken über die Möglichkeit und Konsequenzen einer ernsteren Krankheit beginnt, und im zweiten Absatz so weitergeht:
„Gerd kommt, sein Haar riecht nach dem Heu in seinem Keilkissen, ein Geruch, den ich gern habe. Wir reden über Uwe Johnson. .. Mein Bedauern über die viele verlorene Zeit, diese jahrzehntelange Anstrengung, mich „hier“ zu lösen, meine Unfähigkeit, „drüben“ eine Alternative zu sehen - vielleicht ist eben das meine Neurose: Sich aus Bindungen schwer lösen können. Blockiert sein durch die Kenntnis der anderen Seite, die wahrhaftig nicht zum Übertritt und Bleiben verlockt – was alles Johnson getan hat, und wofür nun seine drei wichtigen Bücher stehen. Aber auch die Zerstörung seiner Person.
Wir schlafen noch einmal ein.“
West und Ost. Immer noch schwer nachzuvollziehen, wie sich dieser Riss durch Deutschland von der anderen Seite angefühlt hat. Dass es diese Mauer überhaupt gab, auch wenn sie die längere Zeit meines Lebens Realität war. Auch: das Worte so unterschiedlich ankommen können.
Und auch das, ein Kernthema von Christa Wolfs Tagebuch. Dass die Frage, was ist eigentlich Literatur, sich dann noch einmal stellt, 3 Schichten tiefer.
“Darum geht es mir seit geraumer Zeit:
Was ist Wirklichkeit?
Wie viele Wirklichkeiten gibt es?“
Realität. Der umfassendste real existierende Koan.
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