Monday, July 02, 2007

Ausläufer einer fiktiven Existenz



Sonntag mit Sonne. Gras unter den Füßen, Schmetterlinge auf lila Blüten, Bücher auf dem Terrassentisch. Und: Ameisen im Rasen. Wo kommt ihr denn nun wieder her, frage ich. Statt einer Antwort treffe ich auf einen Termitenhügel, direkt auf der dritten Seite von dem Buch, das ich fast verpasst hätte: F wie Paula Fox. In der Bücherei einsortiert nicht unter F, sondern unter dem Sonderregal namens 'Moderne Unterhaltung'. Und dafür zeitlos gut.

In jener Zeit begriff ich, was Münzen und Scheine sind, aber nicht, was Geld ist. Fünf Dollar waren reell. Ich konnte sie so lange strecken, daß sie reichten. Allein der Gedanke an fünfzig Dollar versetzte mich in Verwirrung. Wieviel waren 50 Dollar?
Die Schauspielerin ZaSu Pitts verkörperte auf einem Reklamefoto - es machte Werbung für den Film Greed, gedreht im Jahr meiner Geburt, und zeigte sie in kauernder Haltung halbnackt zwischen Haufen von Goldmünzen, mit einem Ausdruck wahnsinniger Habgier auf dem Gesicht - meine Ansicht des amerikanischen Kapitalismus, als ich ein junges Mädchen war. Mit dem Älterwerden änderte sich meine Haltung gegenüber Geld. Ich begann zu verstehen, wie kompliziert es ist, wie einige Menschen es um seiner selbst willen anhäufen, getrieben von Kräften, die mir so geheimnisvoll vorkamen wie jene, die Termiten dazu bringen, in bestimmten Teilen der Welt Hügel von bis zu zwölf Metern Höhe zu bauen.
Zu derselben Zeit, in der ich begann, materielle Dinge zu erwerben, wurde mein Verlangen nach ihnen wach. Doch in mir blieb das Bild von ZaSu Pitts, die die Hände voller Goldmünzen ausstreckt, nicht als Angebot für andere, sondern um sich an ihrem Besitz zu weiden, ein Bild, ebenso verdammungswürdig wie triumphal.


Paula Fox. Sie wurde 1923 in New York geboren. Das Buch in meiner Hand, es ist zugleich Roman und Kindheitserinnerung: In fremden Kleidern: Geschichte einer Jugend, steht dort auf der deutschen Ausgabe, nur die Innenseite verrät den Originaltitel, im Kleingedruckten: Borrowed Finery: A memoir.

Die erinnerte Geschichte fängt bei Fox in Balmville an. Es folgen, kapitelweise, Hollywood, Long Island, Kuba. Dann New York, Florida, New Hampshire, New York, Montreal, New York. Und schließlich: Kalifornien.

Und darauf: das Lachen der Ameisen. Die Liste der Orte, eifrig zusammengeblättert, findet sich zu meiner Überraschung auch auf der letzten Seite des Buches. Inklusive Seitenzahlen.
Um wieviel einfacher wäre es, wenn man diese Liste im Leben vorher hätte, denke ich. Und lande bei dem anderen fast verpassten F-Autor. Max Frisch. Und seinem Gedanken-Theaterspiel, genannt: Biografie: Ein Spiel.

Was passiert? Kürmann, der erfolgreiche Wissenschaftler, darf sein Leben wiederholen, er darf es sogar verändern: wo immer er will, kann er eingreifen, Weichen anders stellen. Ein Wunsch, den jeder kennt: mit den Erfahrungen, die das Leben gebracht hat, dieses Leben noch einmal zu bestehen. Würde man Fehler vermeiden?
Frisch lässt das durchspielen. Zunächst will Kürmann beim Naheliegenden ansetzen: bei seiner gescheiterten zweiten Ehe. Dann sieht er, dass er weiter vorne neu beginnen muss. Doch immer, wenn ihm die Entscheidungssituation auf der Bühne noch einmal eingeblendet wird, ist er wieder in den alten Fesseln gefangen. Frischs Fazit: das Gedankenspiel, nach einem Probelauf wäre man reif für das richtige Leben, beruht auf einer Illusion.


Frisch selbst ist zwölf Jahre vor Fox geboren: 1911 in Zürich. Er war Architekt und Autor, Ehemann und Weltenbummler. All das, überschneidend in verschiedenen Kapiteln seines Lebens. Seine Biografie beginnt 1981, mit einer Begegnung und einem Zitat, das den Details einer Biografie eine interessante fiktionale Frage stellt:

Ein großer Teil dessen, was wir erleben, spielt sich in unserer Fiktion ab, das heißt, daß das wenige, was faktisch wird, nennen wir's Biografie, die immer etwas Zufälliges bleibt, zwar nicht irrelevant ist, aber höchst fragmentarisch, verständlich nur als Ausläufer einer fiktiven Existenz.

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