Saturday, December 10, 2005

Die Tragödie kehrt zurück



Samstagmorgen mit Zeit. Mit John Lennon. Der vor 25 Jahren starb. 16 Tage vor meinem ungefähr 12. Geburtstag. An den ich keine Erinnerung habe. Weder an den damaligen Geburtstag noch an den lebenden John Lennon. Seltsam. Eigentlich. Wer war ich mit 12? Und wer war John Lennon, der Mensch?

Eine laute leise Antwort von ihm, in dem Artikel mit der Überschrift zum Anstecken: Vergesst die Lehrer. Lernt Schwimmen.

"Ich hab mich mit Männern geprügelt, habe Frauen geschlagen. Das ist der Grund, warum ich dauernd von Frieden rede. Es sind die gewalttätigsten Menschen, die sich für Liebe und Frieden einsetzen. Alles ist sein Gegenteil."

Alles ist sein Gegenteil. War das die Woche nicht schon einmal? Nicht in der Zeit, aber in Camus' Kleiner Prosa? Ja. Hier. Im Pascal-Zitat, dass er den Briefen an einen deutschen Freund vorangestellt hat.

"Seine Größe zeigt man nicht, indem man sich zu einem Extrem bekennt, sondern indem man beides in sich vereinigt."

Mehr Parallelen: der Anfang des ersten Camus-Briefes an den Freund. Geschrieben in der Zeit des zweiten Weltkriegs. Von Frankreich an Deutschland. Wie eine Antwort auf den Leitartikel der Zeit. 2005 - das Jahr, in dem die USA der Freund ist, der die Gerechtigkeit in ein Recht umdeutet, das prinzipell nicht allen zusteht. Der neue Worte für Folter findet. Und damit der Welt die Worte nimmt.

Sie sagten: "Die Größe meines Landes kann nicht zu teuer bezahlt werden. Alles, was ihrer Verwirklichung dient, ist gut." - "Nein," entgegnete ich, "ich kann nicht glauben, daß man alles einem bestimmten Ziel unterordnen darf. Es gibt Mittel, die der Zweck nicht heiligt. Und ich möchte mein Land lieben können, ohne aufzuhören, die Gerechtigkeit zu lieben. Indem ich die Gerechtigkeit am Leben erhalte, möchte ich mein Land am Leben erhalten." Und sie haben geantwortet: "Ach was, Sie lieben ihr Land nicht."
- Camus.

Nichts ändert sich.
Alles ändert sich.

~

Tippte sie. Drückte "Veröffentlichen". Und ging dann die Treppe hinunter, zurück zur Sonne, zur Zeit. Blätterte zur nächste Seite. Zu einem Artikel, den sie übersehen hätte, wäre da nicht dieses Foto dazu gewesen, eine Bühne, eine Arena, brennende Flammen, ein griechischer Gott. Alles ziemlich weit weg. Dann fing sie an zu lesen. Und dachte, Nein. Und dann, Ja.

"Diese Zeit steht unter keinem guten Stern. Die Eliten predigen Wasser und saufen Wein. Sie beschwören Tugend und Sitte und denken doch nur an sich selbst. Die Zukunfstangst wächst, Sekten und dionysische Naturanbeter sprießen wie Pilze aus dem Boden. Am schlimmsten jedoch ist der Krieg, den die Supermacht gegen einen Schurkenstaat vom Zaun gebrochen hat. Gefangenen wird die rechte Hand abgehackt, gefoltert werden sie auch. Einst Vorbild der Völker, versinkt die Polis im Morast der Schändlichkeit, in Lug und Trug. "

Die Bakchen, heißt das Stück, das hier skizziert ist. Die Bakchen, geschrieben von Euripides, im Jahre 408 vor Christus. Das Stück der Stunde. Gespielt auf verschiedenen Bühnen der Welt. In schwierigen, verworrenen, düsteren Inszenierungen. Oder: Realitäten. Vielleicht ist es deshalb so umstritten.

Und vielleicht enthält die Interpretation des Stücks auch eine Antwort auf die immer noch offene Frage, warum Lennon erschossen wurde. Gerade Lennon.

"Wir modernen Menschen, lehrt die Inszenierung von Stein, sind mythenvergessene Doppelgänger unserer selbst und machen die Welt ahnungslos zu unserem Spiegelbild. Doch weil wir unseren Anblick, das Grinsen tautologischer Subjektivität, nicht ertragen, zerfleischen wir uns."

Oder unseren Nächsten. Den Fremden. Der den Teil von uns verkörpert, der uns peinlich ist. Den wir fürchten, weil wir uns selbst fremd geworden sind. Dieser Teil, der irgendwo vergessen liegt. Wie ein Bruchstück aus der Antike, eine Scherbe, die wir nicht entschlüsseln können. Und so zerbrechen wir sie.

Dachte sie. Und stand auf, um im Schrank nach den Fotos und Postkarten von 1980 zu suchen. Und nach der Kassette mit Lennon Liedern.

~

No comments: